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Prothetik

Ist der Begriff somatoforme Prothesenunverträglichkeit noch zeitgemäß?

Patienten mit persistierenden diffusen Beschwerden können das zahnärztliche Team in hohem Maße belasten. Durch den Leidensdruck der Betroffenen ist das Risiko groß, dass alle Beteiligten in einen diagnostischen und therapeutischen Amoklauf geraten. Der Beitrag soll im Sinne eines narrativen Reviews, ausgehend von bisher bekannten Diagnosen und auf Basis einer praxisorientierten selektiven Literaturauswahl, einen Überblick über aktuelle Erkenntnisse geben, diese einordnen und Empfehlungen für eine Differenzierung und strukturierte Vorgehensweise aufzeigen.

. Lumenesca/fotolia
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Bereits 1921 beschrieben Moral und Ahnemann [33] in einer Abhandlung über Grenzfälle den Krankheitsverlauf einer 50-jährigen Patientin, die über Zungenschmerzen klagte: „Ihre Darstellung hat den Anschein der Unklarheit, der Verschwommenheit, des Sprunghaften … Zeigten sich einmal die Schmerzen auf der rechten Zungenseite, traten sie bei der Untersuchung der anderen Zungenseite […] plötzlich auch hier auf […], sodass der Schmerz also mit Leichtigkeit von einem Nervengebiet in das andere […] hinüber geleitet werden kann.“

Für die beklagten Beschwerden fanden die Autoren klinisch keine therapiebedürftigen Auffälligkeiten. Die Prothesen bezeichneten sie kunstgerecht gearbeitet und gut okkludierend, der Karenztest war negativ in dem Sinne, dass die Patientin auch ohne integrierten Zahnersatz über gleiche Beschwerden klagte. Die Autoren betonen in diesem Zusammenhang die Nutzlosigkeit und vor allem Schädlichkeit unzähliger Behandlungsversuche, die in der Regel eine Chronifizierung zur Folge haben.

Der Wunsch, den gequälten Patienten zu helfen, führt ihrer Meinung nach zu therapeutischen Irrtümern und Missgriffen. Einer gezielten somatischen Ausschlussdiagnostik, gegebenenfalls interdisziplinär, messen sie große Bedeutung bei. Sie sehen es keineswegs als Aufgabe des Zahnarztes an, die – wie sie sie bezeichnen – Hysterie zu behandeln, wohl aber eine notwendige zahnärztliche Behandlung vorzunehmen.

Auf die Schwierigkeiten der Diagnosestellung bei dem mannigfaltigen und facettenreichen Krankheitsbild weisen sie insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache hin, dass für rein zahnärztliche Routinemaßnahmen in der Regel eine „… oberflächige Aufnahme der Anamnese genügt“, womit die von ihnen dargestellten Grenzfälle zumeist jedoch nicht erkennbar sind. Das Krankheitsbild der „Hysterie“, welches nach Moral und Ahnemann „.… auf einer Störung der normalen Beziehung zwischen den Vorgängen unseres Bewusstseins und unserer Körperlichkeit beruht“ und für welches sie als Grundbedingung festhalten, „… dass die Hysterie eine Erkrankung der Seelenfunktion ist und dass hier die Behandlung einzusetzen hat …“, wurde 1859 bereits von dem französischen Arzt Briquet [5] in seinem Werk „Traité clinique et thérapeutique de l‘hystérie“ beschrieben. Ähnlich wie Moral und Ahnemann [33] mithilfe von Fallbeispielen das Krankheitsgeschehen zu analysieren versuchen, findet man auch bei ihm eine deskriptive Vorgehensweise.

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Er listet eine Vielzahl von körperlichen und seelischen Symptomen auf, die bei „hysterisch“ Kranken in Form eines hervortretenden Leitsymptoms oder in Kombination mehrerer Beschwerden, möglicherweise im Wechsel mit unterschiedlicher Gewichtung und Intensität, auftreten. Die Arbeiten von Briquet wurden in der Folgezeit von vielen Autoren aufgegriffen.

Im Wesentlichen unter Mitwirkung von Guze [17–19] wurde der Versuch unternommen, seine Beobachtungen zu systematisieren. Mit Einführung des DSM-III im Jahre 1980 [3] wurde das Briquet-Syndrom als Gerüst des Prototyps der Somatisierungsstörung erstmals als eigenständige Kategorie in ein klinisch verbindliches Klassifikationssystem aufgenommen.

Müller-Fahlbusch und Marxkors [30] prägten den Begriff der „psychogenen Prothesenunverträglichkeit“, eine Bezeichnung, die Peterhans [36] bereits 1948 verwendet hatte. Müller-Fahlbusch und Marxkors verstehen auf Basis eines im Jahre 1976 durchgeführten interdisziplinären Forschungsprojektes [39] darunter, „Beschwerden, die nicht ins Bild der jeweiligen Befundsituation passen. Die Beschwerden sind mehr allgemeiner Art, wenig griffig und lassen keine oder zumindest keine direkten Schlüsse auf einen Mangel der prothetischen Arbeit zu“ [31,4].

Während Marxkors den Begriff im prothetischen Kontext sah, erweiterte Müller-Fahlbusch diese Sichtweise um psychiatrische Aspekte. Im Rahmen der interdisziplinären Studie diagnostizierte er bei 57% der wegen psychogener Prothesenunverträglichkeit betreuten Patienten eine phasische und chronische Depression, bei 21% eine abnorme Persönlichkeitsstörung, bei 19% eine abnorme Erlebnisreaktion. Etwa 3% der Patienten ordnete er in die Gruppe der Schizophrenien ein.

Erst im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit entwickelte sich eine Sichtweise im Sinne der psychosomatischen Diagnostik, welche vor allem Ausdruck fand in jenem von Müller-Fahlbusch [34] zusammengestellten Katalog von 5 diagnostischen Kriterien zur Erkennung psychosomatisch auffälliger Patienten (Tab. 1). Müller-Fahlbusch misst dem Behandlungszeitpunkt einer möglicherweise notwendigen somatischen Therapie eine besondere Bedeutung bei und zeigt Empfehlungen auf, wie mit diesen Patienten umzugehen ist. So empfiehlt er ebenso wie Haneke [20] die Verordnung von Psychopharmaka, in der Regel Antidepressiva.

Diagnostische Kriterien für das Vorliegen einer psychogenen Prothesenunverträglichkeit nach Müller-Fahlbusch
1. Diskrepanz zwischen Beschreibung der Beschwerden und anatomischen Grenzen
2. Diskrepanz zwischen Chronologie der Beschwerden und den uns aus klinischer Erfahrung bekannten Verläufen
3. Ex non juvantibus (eine normalerweise hilfreiche Behandlung führt nicht zum Erfolg)
4. Ungewöhnliche Mitbeteiligung des Patienten am Krankheitsgeschehen
5. Koinzidenz von biografisch-situativen Ereignissen und Beginn der Beschwerden

Tab. 1: Prothesenunverträglichkeit nach Müller-Fahlbusch [34].

Balters [4] rät zu einer psychologischen Betreuung der Erkrankten, die ihnen helfen soll, den Zahnverlust ins Positive zu kehren. Marxkors [31] warnt im Umgang mit schwierigen Patienten vor Überrumpelungen und davor, Behandlungen entgegen besserer Einsicht seitens des Zahnarztes über ein vertretbares Maß hinaus auszudehnen, nur weil dies vom Patienten so gewünscht wird. Andere Autoren [8,48] empfehlen bei mit „Psychose behafteten Patienten“ zuerst feste Konstruktionen in Erwägung zu ziehen.

Einig sind sich alle Autoren hinsichtlich einer dringend erforderlichen interdisziplinären Zusammenarbeit. 2008 wurde die Bezeichnung „psychogene Prothesenunverträglichkeit“ durch den Begriff der „somatoformen Prothesenunverträglichkeit“ [13] ersetzt. Damit erfolgte die seit Längerem notwendige Anpassung an die in der Allgemeinmedizin gebräuchliche Nomenklatur [12].

Neben dem Burning-Mouth-Syndrom, der somatoformen Schmerzstörung und der körperdysmorphen Störung (als Sonderform) stellt die somatoforme Prothesenunverträglichkeit eine für die Zahnmedizin relevante Untergruppe der somatoformen Störung dar: „Das Charakteristikum der somatoformen Störung ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ereignisse und Versicherungen der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Ist aber irgendeine Organpathologie vorhanden, dann erklärt sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome oder das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten.“

Mit dieser Einordnung des Krankheitsbildes der „somatoformen Prothesenunverträglichkeit“ erhält das erste Kriterium nach Müller Fahlbusch eine deutlich erweiterte Dimension. Während Müller-Fahlbusch die Diskrepanz auf anatomische Strukturen bezog – „ohne Anatomie geht auch in der ärztlichen Psychologie und Psychosomatik gar nichts“ [34] –, wird mit der Einbeziehung somatischer Befunde gefordert, dass die Beschwerden im Kontext möglicher, auch pathologischer Befunde hinsichtlich ihrer Art, Ausdehnung und Intensität bewertet werden müssen, um eine dann gegebenenfalls vorliegende Diskrepanz zu geklagten Beschwerden aufdecken zu können.

Merkmale einer „somatoformen Prothesenunverträglichkeit“ 

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob der Begriff der somatoformen Prothesenunverträglichkeit heute noch ausreichend präzise diese Patientengruppe zusammenfasst oder ob es mittlerweile weitere Klassifikationen/Einteilungen gibt, die eine genauere Unterscheidung und damit auch gezieltere behandlerische Optionen erlauben. Belastbare Zahlen, wer typischerweise von diesem Krankheitsbild betroffen ist, gibt es kaum. Studien [32,39] konnten nachweisen, dass Frauen im Alter zwischen 60 und 70 Jahren etwa 5-mal häufiger eine dafür spezialisierte Sprechstunde aufsuchen.

Die von den Betroffenen geklagten Leitsymptome sind Schmerz, Mundschleimhautbrennen und Gewöhnungsstörungen (zumeist bezogen auf Zahnersatz und häufig speziell bezogen auf Zubissschwierigkeiten). Diese Symptome können lokalisiert auftreten oder auch weit über die Mundhöhle hinaus ausstrahlen. Sie werden dem Krankheitsverständnis der Betroffenen folgend ursächlich ausschließlich mit dem Mundbereich in Zusammenhang gebracht.

In der Regel bestehen die Beschwerden länger als 6 Monate. Der Weg der Patienten auf der Suche nach Entlastung ist gekennzeichnet von unzähligen diagnostischen Prozeduren und Therapieversuchen („doctor hopping, doctor shopping“). Es ist nicht selten zu beobachten, dass Betroffene wie auch nahestehende Personen das gesamte Leben dem Diktat der Beschwerden unterwerfen und somit eine deutlich reduzierte Lebensqualität aufweisen.

Begleitet werden diese Leitsymptome teils von Klagen über Mundtrockenheit oder Geschmacksirritationen. Die Beschwerden sind im Verlauf hinsichtlich ihrer Intensität individuell unterschiedlich und variabel. Diese Merkmale hinsichtlich Verlauf und Dauer, Krankheitsverständnis bzw. Beschäftigung mit den Beschwerden sind wesentliche Kriterien der neu in die Klassifikationen eingeführten Diagnose der „somatischen Belastungsstörung“, welche somit als übergeordnete Kategorie angesehen werden kann.

Somatische Belastungsstörung (SBS)

Unter einer SBS (engl.: Somatic Symptom Disorder, SSD) versteht man eine im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) neu eingeführte Klassifikation [7,25,26,41]. Damit sollen jene ca. 30% Patienten in der Grundversorgung diagnostisch erfasst werden, die sich durch bestehende körperliche Symptome erheblich bis stark belastet und im Alltag aufgrund dieser Beschwerden eingeschränkt fühlen. Zur Stellung dieser Diagnose ist es unerheblich, ob die in Tabelle 2 genannten Merkmale durch eine somatische und/oder psychische Ursache ausgelöst wurden.

Tab. 2: Somatische Belastungsstörung: Für die Diagnose nach DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual für Psychische Störungen) müssen die Kriterien A, B (mindestens 1 von 3 psychologischen Dimensionen) und C erfüllt sein [11,25]. Wolowski
Tab. 2: Somatische Belastungsstörung: Für die Diagnose nach DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual für Psychische Störungen) müssen die Kriterien A, B (mindestens 1 von 3 psychologischen Dimensionen) und C erfüllt sein [11,25].

Der Schweregrad der Belastung wird in der allgemeinen Medizin über eine 8 Symptome umfassende Skala (SSS 8) mit entsprechenden Punktwerten bestimmt [16,28] (Tab. 3). Typische zahnmedizinische Symptome werden bisher im SSS 8 nicht erfasst.

Symptomliste
  • Bauchschmerzen oder Verdauungsbeschwerden
  • Rückenschmerzen
  • Schmerzen in Armen, Beinen und Gelenken
  • Kopfschmerzen
  • Schmerzen im Brustbereich oder Kurzatmigkeit
  • Schwindel
  • Müdigkeit oder Gefühl der Energielosigkeit
  • Schlafstörungen
Schweregrad der somatischen Belastung
0–3: Keine bis minimal
4–7: Gering
8–11: Mittelgradig
12–15: Hoch
16–32: Sehr hoch

Tab. 3: Somatische Symptomskala zur Erhebung der somatischen Belastung (SSS 8) [28]. Es wird ein Summen-Score von 0 = „gar nicht“ bis 4 = „sehr stark“ gebildet auf die Beantwortung der Frage „wie stark die Beeinträchtigung durch die genannten Symptome während der vergangenen Woche war“.

Zur Einschätzung einer möglicherweise grundsätzlich bestehenden Problematik kann diese Symptomskala im Kontext allgemeinmedizinischer Fragen jedoch durchaus auch in einer zahnärztlichen Sprechstunde abgefragt werden. Damit besteht die Chance, in diese Richtung weisende Tendenzen und damit die Gefahr einer Ausweitung auf den Kiefer-Gesichtsbereich durch gegebenenfalls notwendige zahnmedizinische Maßnahmen frühzeitig zu erkennen und entsprechend darüber aufzuklären.

In Abhängigkeit von der Schwere der Störung muss entschieden werden, ob eine „Risikoaufklärung“ durch den Zahnarzt ausreichend ist oder ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt werden sollte. Für eine solche Entscheidung kann es hilfreich sein, relevante zahnmedizinische Krankheitsbilder zu differenzieren. Die Notwendigkeit dieser Differenzierung ergibt sich auch daraus, dass ein interdisziplinäres Setting mitbehandelnder „Nichtzahnmediziner“ eindeutige Angaben zum zahnmedizinischen Kontext benötigt.

Zahnmedizinische Krankheitsbilder mit diffus erscheinender Symptomatik

Zahnmedizinische Krankheitsbilder innerhalb der Gruppe der somatischen Belastungsstörungen lassen sich durch eine beschwerdebezogene Einteilung differenzieren. Die Leitsymptome sind Mundschleimhautbrennen, Schmerz und okklusale „Störungen“.

Mundschleimhautbrennen: Scala et al. [40] unterscheiden das sekundäre Mundschleimhautbrennen als Folge einer diagnostizierbar zugrundeliegenden zahnmedizinischen, allgemeinmedizinischen, einschließlich psychischen Erkrankung/Störung vom idiopathischen Mundschleimhautbrennen, welches als BMS zu diagnostizieren ist [47]. Entsprechend der aktuell gültigen Definitionen [24] basiert die Diagnose BMS somit auf einer Ausschlussdiagnostik.

Die verschiedenen aktuellen Definitionen bezüglich des BMS unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Angabe zur Gesamtdauer und dem tageszeitlichen Verlauf. Da in der Literatur in vielen Studien BMS nicht immer gleich definiert wurde, lässt sich bezogen auf psychische Faktoren nicht durchgängig unterscheiden, ob diese als Ursache für ein sekundäres Mundschleimhautbrennen verantwortlich sind oder ob psychische Faktoren als Folge eines (idiopathischen) BMS auftreten.

Genannt werden Angstzustände bis hin zur Krebsphobie, was bei ca. 20% der BMS-Patienten zu beobachten ist. Als weitere Diagnosen werden Depression und Somatisierungsstörungen genannt [2,6,14,27,29,37] (Tab. 4). Schmerz im Sinne eines anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerzes (Persistent Idiopathic Facial Pain [PIFP]/Atypische Odontalgie (persistierender [idiopathischer] dentoalveolärer Schmerz): Unter PIFP versteht man einen Schmerz, der nicht die Kriterien einer Gesichtsneuralgie erfüllt und nicht mit Zeichen einer organischen Läsion assoziiert ist.

Tab. 4: Typische Merkmale, Screeningmöglichkeiten, Differenzialdiagnosen und Aufklärungshilfen bei diffus erscheinenden Krankheitsbildern im orofazialen Bereich. Wolowski
Tab. 4: Typische Merkmale, Screeningmöglichkeiten, Differenzialdiagnosen und Aufklärungshilfen bei diffus erscheinenden Krankheitsbildern im orofazialen Bereich.
Tab. 4 Teil 2: Typische Merkmale, Screeningmöglichkeiten, Differenzialdiagnosen und Aufklärungshilfen bei diffus erscheinenden Krankheitsbildern im orofazialen Bereich. Wolowski
Tab. 4 Teil 2: Typische Merkmale, Screeningmöglichkeiten, Differenzialdiagnosen und Aufklärungshilfen bei diffus erscheinenden Krankheitsbildern im orofazialen Bereich.

„Der Schmerz ist täglich vorhanden, überwiegend kontinuierlich, einseitig und schlecht lokalisierbar. Sensibilitätsstörungen oder andere Ausfälle liegen nicht vor. Zusatzuntersuchungen inklusive Röntgendiagnostik von Gesicht und Kiefer sind unauffällig. Eine Verletzung oder Operation von Gesicht, Kiefer und Zähnen kann den Schmerz ausgelöst haben, aktuell darf jedoch kein pathologischer Lokalbefund zu erheben sein“ [10]. Damit handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose [15].

Als lokalisierte Form des PIFP wird die atypische Odontalgie beschrieben, bei welcher ein dem Phantomschmerz vergleichbarer Pathomechanismus eines neuropathologischen Dauerschmerzes angenommen wird [15,44]. Aufgrund fehlender pathologischer Befunde handelt es sich hierbei auch um eine Ausschlussdiagnostik. Als Risiko- bzw. Auslösefaktoren werden endodontische Eingriffe oder eine schmerzhaft erlebte zahnärztliche Behandlung vor einer Zahnextraktion beschrieben (Tab. 4).

Okklusale Dysästhesie: Das Krankheitsbild der okklusalen Dysästhesie (OD) beschreibt das Phänomen, dass Patienten über Beschwerden, ausgehend von der Okklusion klagen, die klinisch in keiner Weise objektivierbar sind. Die Betroffenen sind zumeist psychosozial belastet und weisen Merkmale einer Depression und/oder Angststörung auf. Sie sind in hohem Maße bis ausschließlich fokussiert auf eine somatische/okklusale Ursache ihres Leidens, und jeder noch so objektiv den Regeln der Kunst entsprechende Therapieversuch bei zumeist wechselnden Behandlern führt fast regelhaft zu einer Intensivierung der Beschwerden.

Das für dieses Krankheitsbild in der Literatur beschriebene mittlere Alter wird mit 52 Jahren (plus/minus 11 Jahren) angegeben, was auch der klinischen Erfahrung im Rahmen spezialisierter Sprechstunden entspricht. Als ätiologische Faktoren werden psychopathologische Ursachen, Neuroplastizität, Phantomphänomene und Veränderungen der propriozeptiven Reize und ihrer Übertragung diskutiert [9] (Tab. 4).

Strukturierte Vorgehensweise

Angesichts der zumeist komplexen und diffusen Beschwerdeproblematik und auch des Leidensdrucks der Betroffenen gilt es als oberstes Ziel, möglichst frühzeitig alle Einflussfaktoren zu identifizieren und umfassend darüber aufzuklären, damit Betroffene in dem weiteren diagnostischen und gegebenenfalls therapeutischen Prozess aktiv eingebunden sind. Die 2019 veröffentlichte Leitlinie zu „funktionellen Körperbeschwerden“ [37], die ausdrücklich das Krankheitsbild der somatischen Belastungsstörung in das Spektrum der darunter zusammengefassten Krankheitsbilder einbezieht, gibt eine strukturierte Vorgehensweise vor. Diese orientiert sich an der Schwere des Verlaufs und wird eingeteilt in eine immer notwendige initiale Grundversorgung und eine erweiterte Grundversorgung bei längeren Krankheitsverläufen sowie eine multimodale Behandlungsphase angesichts schwerer Verläufe, wobei es sich gerade bei solchen Verläufen in der zahnärztlichen Praxis als große Schwierigkeit erweist, Betroffene einer multimodalen Therapie zuzuleiten.

In diesem Kontext sollte betont werden, dass die weitere zahnmedizinische Behandlungsbegleitung in jedem Fall aufrechterhalten werden sollte und kein Entweder-/oder-Prinzip eingeleitet wird mit der Überweisung in andere Fachdisziplinen. Die Problematik sollte zum besseren gegenseitigen Verständnis für Mitbehandler und dem Patienten schriftlich dargelegt werden.

Hier gilt der Grundsatz der maximalen Transparenz. Dies setzt eine tragfähige und somit belastbare Arzt-Patienten-Beziehung voraus, die durch eine strukturierte Vorgehensweise gefördert werden kann (Tab. 5).

Tab. 5: Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen (in Anlehnung an [37]). Wolowski
Tab. 5: Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen (in Anlehnung an [37]).

Was bleibt vom Krankheitsbild der „somatoformen Prothesenunverträglichkeit“?

Abschließend stellt sich die Frage, wann die Diagnose „somatoforme Prothesenunverträglichkeit“ heute noch gerechtfertigt ist. Diese kann gleichfalls als eine Untergruppe zahnmedizinischspezifischer Erkrankungen im Sinne einer somatischen Belastungsstörung verstanden werden bei Betroffenen, deren Hauptsymptomatik sowohl Mundschleimhautbrennen als auch Schmerzen und/oder okklusale Schwierigkeiten bis hin zu einer allgemein körperlich schwer belastendenden Symptomatik ist. Aufgrund der bisher vorliegenden klinischen Erfahrung darf man davon ausgehen, dass diese Diagnose insbesondere auf Patienten zutreffen wird, die in der Regel mit Zahnersatz (festsitzend und/oder herausnehmbar) den Regeln der Kunst entsprechend versorgt sind, damit Schwierigkeiten haben und im Sinne einer somatischen Belastung dadurch auffällig werden.

Auch wenn die Diagnose „somatoforme Prothesenunverträglichkeit“ grundsätzlich keine Ausschlussdiagnostik sein darf, sondern es vielmehr erforderlich ist, Hinweise auf somatische wie auch psychosoziale Einflussnahmen aufzudecken, sollte ein differenzialdiagnostischer Ausschluss der o.g. spezifischen Krankheitsbilder erfolgen. Es ist zu erwarten, dass die Diagnose „somatoforme Prothesenunverträglichkeit“ auch gemeinsame Schnittmengen aufweisen kann mit den beschriebenen zahnmedizinischen Krankheitsbildern. Hilfreich und entscheidend für den Praktiker ist die für alle Differenzialdiagnosen gültige identische Vorgehensweise im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung.

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