Umfassende Parodontitistherapie: das Berner Konzept – Teil 2

Fortsetzung
Einzelzahnprognose und Behandlungsplan
Schon vor Behandlungsbeginn müssen der Zahnarzt sowie der Patient wissen, wie die Mundsituation nach Behandlungsende aussehen wird. Eine Behandlung (Ausnahme: Notfallbehandlungen) sollte nie ohne konkreten Behandlungsplan beginnen, d. h. bevor dieser mit dem Patienten besprochen und von ihm akzeptiert wurde (siehe unten).
Ein sehr wichtiger Aspekt, der die Ausarbeitung des Behandlungsplanes steuert, ist, die Wertigkeit jedes einzelnen Zahnes einzuschätzen und die nötige Behandlung zu definieren, d. h. eine prätherapeutische Einzelzahnprognose zu erstellen. Kriterien dafür sind der parodontale, dentale, endodontische und funktionelle Zustand der Zähne (Tab. 1). Die Beurteilung erfolgt unter Zuhilfenahme der Röntgenbilder und des Parodontalstatus. Zudem müssen strategische Aspekte (z. B. die Pfeilerverteilung für die zukünftige prothetische Versorgung), anatomische Eigenschaften sowie Langzeitprognose und nicht zuletzt der Wunsch des Patienten in Betracht gezogen werden. Vor allem muss man versuchen, die sogenannten „Schlüsselzähne“, deren Verlust eine Kettenreaktion von therapeutischen Maßnahmen auslöst, zu erhalten. Mit all diesen Informationen wird anschließend der Behandlungsplan ausgearbeitet.
Als „sicher“ gelten Zähne, die ohne großen therapeutischen Aufwand erhalten werden können. Solche Zähne können mit der Parodontitistherapie ohne biologische und technische Komplikationen behandelt werden. Die Zähne, die einen entsprechend höheren Behandlungsaufwand (Zeit und Geld) benötigen, werden als „zweifelhafte“ Zähne eingestuft. Ziel ist es, diese Zähne nach der Behandlung als „sicher“ einstufen zu können. Bei den „nicht erhaltungswürdigen“ Zähnen erscheint der Erhalt nicht sinnvoll oder möglich zu sein, deswegen wird eine Extraktion in Betracht gezogen.
Die Kriterien für die Einzelzahnprognose dürfen individuell interpretiert werden. Wenn der Zahn z. B. mehrere Kriterien für eine „zweifelhafte“ Prognose hat, ist es durchaus möglich, einen solchen Zahn als „nicht erhaltungswürdig“ einzustufen.
Behandlung in vier Phasen
Eine Parodontitisbehandlung beinhaltet 4 Phasen:
- systemische Phase
- Hygienephase (oder Initialtherapie oder nichtchirurgische Therapie)
- korrektive Phase (chirurgische Therapie und prothetische Versorgung)
- Betreuungsphase oder Erhaltungstherapie (Recall).
Systemische Phase
In der systemischen Phase sind allgemeingesundheitliche Fragen zu klären: Welche Krankheiten hat der Patient und welche Medikamente nimmt er ein, die den Behandlungsablauf beeinflussen oder modifizieren können (Antibiotikaprophylaxe, Blutverdünnungsmittel usw.).
Der nächste Aspekt ist das Rauchen. Dieser muss unbedingt mit dem Patienten vor der Behandlung abgeklärt werden. Laut der Deutschen Krebsgesellschaft rauchen etwa 25 % aller Erwachsenen regelmäßig. Viele Studien haben belegt, dass das Rauchen ein Parodontitisrisiko darstellt8,41. Außerdem sind die Behandlungsresultate nach chirurgischer Parodontaltherapie, besonders mit regenerativen Maßnahmen, bei den rauchenden Patienten schlechter34,36. Letztendlich haben Raucher ein größeres Risiko, dass die Parodontitis erneut auftritt und weiter fortschreitet25,37,38. Deshalb gehören eine Aufklärung über den schädigenden Einfluss des Rauchens, sowie der Versuch einer Raucherentwöhnung in jede Parodontitisbehandlung. In den Jahren 2001–2006 wurde die Tabakentwöhnung in die Curricula Zahnmedizinischer Berufe (Zahnärzte, Dentalhygienikerinnen (DH), Prophylaxeassistentinnen (PA) und Dentalassistentinnen (DA) in der Schweiz integriert. Lesen Sie hierzu einen Beitrag von Dr. Ramseier.
Hygienephase, Initialtherapie, oder nichtchirurgische Therapie
Dies ist die wichtigste, die anspruchsvollste, die längste und für viele Patienten die einzige nötige Behandlungsphase der gesamten Parodontitisbehandlung. Daher sind hier das Wissen und gute manuelle Fähigkeiten des Behandlers gefragt. Ziel ist die Behandlung der Karies und Gingivitis sowie das Stoppen der weiteren Destruktion von parodontalen Gewebe durch Elimination der Krankheitsursachen – der Plaque. Dies wird mit der Schaffung von sauberen Mundverhältnissen durch vollständige Depuration und optimale individuelle Mundhygiene erreicht.
Die Behandlungsschritte der Initialtherapie:
- Motivation des Patienten und Besprechung des Behandlungsplanes
- Mundhygieneinstruktion
- Behandlung von offenen Kariesläsionen und überhängenden Füllungen
- Extraktion der „nicht erhaltungswürdigen“ Zähne
- systematische Entfernung von supra- und subgingivalem Zahnstein durch Scaling und Wurzelglätten unter Lokalanästhesie (beansprucht in der Regel vier Sitzungen)
- Anfertigung der provisorischen Restaurationen zur Wiederherstellung der Kaufunktion (falls nötig)
- Reevualation nach 6 bis 12 Wochen.
Es hat sich sehr gut bewährt, vor der aktiven Behandlung ein Motivationsgespräch mit dem Patienten durchzuführen. Währenddessen wird der Patient mithilfe eines Motivationsblattes über die Ursachen von Karies, Gingivitis und Parodontitis und den Verlauf der Erkrankungen informiert. Gleichzeitig wird anhand der Befunde (Parodontalstatus und Röntgenbefund) eine Besprechung des Behandlungsplanes durchgeführt. Der Patient wird über die einzelnen zu erwarteten Behandlungsschritte und deren Indikationen, Risiken und Erfolgsaussichten sowie die Bedeutung der geplanten Parodontalbehandlung informiert und auf die Wichtigkeit seiner Mitarbeit für die Langzeitprognose von Zähnen/Implantaten hingewiesen. Dies nimmt kostbare Zeit des Zahnarztes in Anspruch und wird leider wirtschaftlich kaum honoriert. Es vereinfacht jedoch die gesamte Behandlung des Patienten, die in komplexen Fällen bis zu zwei Jahre dauern kann. Die Patienten fühlen sich sicher und wohler, wenn sie über die bevorstehenden Behandlungen Bescheid wissen. Zudem bindet ein umfangreiches und aufklärendes Gespräch den Patienten.
Da der Erfolg einer Parodontitisbehandlung von der Mundhygiene des Patienten abhängt, ist die Mundhygieneinstruktion ein wichtiger Teil der Initialbehandlung. Dafür wird die Plaque angefärbt und der Plaqueindex (nach O’Leary)28 bestimmt. Die Registrierung des Plaqueindexes hilft, den Patienten zu motivieren und seine Mundhygiene zu kontrollieren. Für die Patienten mit Parodontitis wird die Bass-Methode (spezielle Zahnputztechnik) empfohlen und eine adäquate Methode zur Interdentalraumreinigung (meist mit Interdentalraumbürstchen), um Zahnfleischrückgang zu vermeiden.
Die systematische Entfernung von supra- und subgingivalem Zahnstein durch Scaling und Wurzelglätten sowie eine optimale Mundhygiene des Patienten, unabhängig von den Ausgangssondierungstiefen, stellt eine sehr erfolgreiche Therapie dar, um die Zahnfleischentzündung, die Sondierungstiefen7,26 und sogar die Wahrscheinlichkeit für Zahnverlust zu reduzieren20.
Die systematische Entfernung von supra- und subgingivalem Zahnstein durch Scaling und Wurzelglätten sollte unter Lokalanästhesie erfolgen. Es wird empfohlen, die Behandlung quadrantenweise durchzuführen. Mit gleichzeitiger professioneller Zahnsteinreinigung werden die „nicht erhaltungswürdigen“ Zähne extrahiert und, wenn vorhanden, überstehende Füllungs- oder Kronenränder anpoliert. Diese Maßnahmen sollen saubere Mundverhältnisse schaffen und zur Reduktion von parodontalpathogenen Keimen führen. Am besten legt man die Termine im Abstand von 7 bis 10 Tagen fest. Das ermöglicht nicht nur eine bessere Heilungsbeobachtung der Parodontalgewebe, sondern man kann dabei die individuellen Mundhygienemaßnahmen des Patienten unterstützen bzw. korrigieren.
Ein neues Konzept für die nichtchirurgische Parodontitistherapie von „full mouth desinfection“, wurde in der Mitte der 1990er Jahren vorgeschlagen30. Der Gedanke war, die nichtchirurgische Behandlung innerhalb von 24 Stunden durchzuführen, um einer Reinfektion von Bakterien bereits behandelter Taschen mit Bakterien aus den restlichen, noch nicht behandelten Taschen und anderen Reservoiren im Mund vorzubeugen. Das Konzept wurde in mehreren klinischen Studien mit widersprüchlichen Resultaten getestet. Heute kann „full mouth desinfection“ als eine Alternative zur gewöhnlichen nichtchirurgischen Therapie (quadrantenweise), aber ohne bessere relevante klinische oder mikrobiologische Resultate betrachtet werden13,24.
Für die systematische Entfernung von supra- und subgingivalem Zahnstein durch Scaling und Wurzelglätten können sowohl Handküretten als auch Ultraschallgeräte verwendet werden. Beide sind sehr effektiv und erzielen gleiche klinische Resultate39. Gleich, ob mit Hand- oder Ultraschallinstrumenten gearbeitet wird, eine vollständige Entfernung von subgingivalem Zahnstein ist unmöglich. Abhängig von der Erfahrung des Behandlers bleibt rückständiger Zahnstein in mehr als 6 mm tiefen Taschen auf 19–66 % der Oberflächen bestehen; meistens aber auf inter-proximalen Oberflächen, in den tiefen Taschen sowie im Furkationsbereich1. Dennoch wird nach einer systematischen nichtchirurgischen Behandlung die Reduktion der Entzündung mit Taschentiefenreduktion und Straffung der Parodontalgewebe erzielt. Dies wird mit einem Konzept „der kritischen Masse“ erklärt42: Durch eine parodontale Therapie wird die Masse (Quantität) von pathogenen Bakterien bis auf ein (kritisches) Niveau reduziert, damit ein Gleichgewicht zwischen den restlichen Bakterien und der Abwehrreaktion entsteht, d. h. keine Krankheit auftritt.
Die Antibiotikagabe zur Unterstützung mechanischer Parodontitistherapie ist ein sehr umfangreiches und umstrittenes Thema und wird in diesem Artikel nicht diskutiert. Hinzuweisen ist darauf, dass die Parodontitis in den meisten Fällen ohne zusätzliche Antibiotikagabe erfolgreich behandelt werden kann.
Nach 6 bis 12 Wochen werden die Resultate der nichtchirurgischen Parodontaltherapie evaluiert. Es wird erneut das Messen der Sondierungstiefen und Aufzeichnen des Attachmentniveaus durchgeführt sowie das BOP und der Plaqueindex (nach O’Leary) registriert.
Mit dieser Reevaluation wird der Erfolg bzw. Misserfolg der nichtchirurgischen Parodontaltherapie festgestellt (Tab. 2). In der Regel ist klinisch eine Festigung und Schrumpfung der Gingiva zu erkennen. Die Verringerung der Entzündung der Gingiva spiegelt sich in reduziertem Bluten auf Sondieren (BOP-Index) wider. Viele klinische Studien haben belegt, dass die nichtchirurgische Parodontaltherapie in allen Taschentiefen effektiv ist, sofern die individuelle Plaquekontrolle des Patienten optimal ist7,12,26. Die Reduktion der Sondierungstiefe und der Gewinn des Attachmentniveaus hängen von den Taschensondierungstiefen vor der Behandlung ab – je tiefer die Taschen vor der Behandlung waren, desto größer ist die Reduktion der Sondierungstiefe. Nach einer nichtchirurgischen Parodontitistherapie werden zum Beispiel die Taschen mit Sondierungstiefen von 4–6 mm um 1,29 mm reduziert und gewinnen 0,55 mm an Attachment; Taschen mit Sondierungstiefen ??7 mm werden um 2,16 mm reduziert und gewinnen 1,19 mm an Attachment9. Durchschnittlich kann bei Taschen mit Sondierungstiefen über 5 mm mit einer 1,18-mm-Reduktion an Sondierungstiefe und mit einem Attachmentgewinn von 0,64 mm gerechnet werden40.
Auch Zähne, die eine „zweifelhafte“ Prognose vor der Behandlung hatten, werden reevaluiert. Die gleichen Kriterien werden zur Beurteilung angewendet, ob der Zahn nun in die Kategorie „sicherer“ Zähne eingestuft werden kann oder ob die Behandlung ein Misserfolg war, sodass der Zahn in dieser Behandlungsphase extrahiert werden muss. In diesem Fall muss eine Modifizierung des Behandlungsplanes ausgearbeitet werden.
Ziel nach der Initialtherapie ist, keine Sondierungstiefen über 5 mm mit Bluten auf Sondieren vorzufinden, weil die Taschen mit Sondierungstiefen über 5 mm sowie Bluten ein Risiko für das weitere Fortschreiten der Parodontitis mit Zahnverlust darstellen. Daher sind diese Taschen als unbefriedigendes Behandlungsresultat zu betrachten und müssen weiter behandelt werden25. In einzelnen Fällen (einwurzelige Zähne oder einzelne Taschen) ist eine wiederholte nichtchirurgische Therapie möglich. Ansonsten sollte zur Elimination der Resttaschen, besonders wenn sie mit einem vertikalem Knochendefekt oder Furkationsbefall kombiniert sind, eine chirurgische Therapie folgen. Die Mitarbeit des Patienten darf nicht vergessen werden – auf gar keinen Fall dürfen die Patienten mit schlechter Mundhygiene (O‘Leary-Index über 30 %) chirurgisch behandelt werden, da die Behandlungsresultate in solchen Fällen schlechter sind als bei gar keiner Therapie27. Die Behandlungsstrategien nach Initialtherapie sind Tabelle 2 zu entnehmen.