Allgemeine Zahnheilkunde


Der chronische Schmerzpatient in der zahnärztlichen Behandlung

© absolutimages/fotolia
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Der Zahnarzt muss die dem akuten und chronischen Schmerzgeschehen zugrundeliegenden Mechanismen verstehen und differenzieren können, entsprechend diagnostizieren und (interdisziplinär) therapieren. Der Akutschmerz hat eine lebenserhaltende Bedeutung; beim chronischen Schmerz ist diese Warnfunktion verloren gegangen und der Schmerz ist zu einem eigenständigen Krankheitsbild geworden. Für den Praktiker ist die Diagnostik und korrekte Primärbefundung des Akutschmerzes in der Alltagsroutine Standard, da ohne diese kein korrektes Schmerzmanagement möglich ist. Jedoch dürfen chronische Schmerzpatienten nicht genauso diagnostiziert oder sogar unter Annahme einer akuten Symptomatik fehltherapiert werden. Somit gilt es, diese Patienten zu erkennen, geeignete Diagnoseschritte einzuleiten und gegebenenfalls interdisziplinär zu behandeln. Für den Behandler gilt es abzuwägen, ob durch die zahnärztliche Behandlung eine Linderung der Beschwerden auftritt oder möglicherweise eine Verstärkung (wiederholte invasive Behandlunge ) oder Verschlechterung des funktionellen Zustandes (Extraktion von Zähnen) resultieren könnte. Die Basis einer Therapie darf nicht das veraltete Reiz-Reaktionsprinzip sein. Nach dem Ausschluss somatischer und lokaler Ursachen müssen andere Krankheitsbilder in der Diagnostik berücksichtigt werden, denn die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung ist ein komplexer Prozess. Hierbei sind sowohl zentrale als auch periphere Veränderungen des Nervensystems von Bedeutung. Dieser Artikel soll einen Überblick über unterschiedliche orofaziale Schmerzbilder schaffen und entsprechende Diagnostik-, sowie Therapiemöglichkeiten aufzeigen.

Per definitionem ist Schmerz nach der „International Association for the Study of Pain“ (IASP) „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potenziellen Gewebsschädigung einhergeht oder mit den Begriffen einer solchen beschrieben wird“ [1,2]. Wird der Schmerz zum selbstständigen Krankheitsbild und Erkrankung ohne eigentliche Warnfunktion, so wird ein „chronisches Schmerzsyndrom“ oder eine „chronische Schmerzkrankheit“ (ICD-10 online, WHOVersion 2016) angenommen [3]. Hierfür findet sich eine Prävalenz in der Bevölkerung von 13 bis 26% [4]. Diese „chronischen Schmerzen“ halten länger als 3 Monate (früher 6 Monate) an und führen zu Beeinträchtigungen: Patienten berichten über eine Veränderung des sozialen Gefüges und einer Belastung des Alltags [5]. Ebenso können im Umkehrschluss Angst oder Depression die Schmerzwahrnehmung beeinflussen. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen chronischen orofazialen Schmerzen und einem katastrophisierenden Verhalten der Patienten [6].

Schmerzempfinden und Schmerzausdruckverhalten sind individuell. Es spielen hierbei geschlechts- und genderabhängige Faktoren, kulturelle Gegebenheiten und situative Einflüsse eine Rolle. Häufig gibt es bei chronischen Schmerzen keinen Zusammenhang zwischen dem Grad des objektiven, schmerzverursachenden peripheren Befundes und der individuellen Schmerzschilderung des Patienten [7]. Wenn Patienten dann den Zahnarzt aufsuchen und dieser behandelt die vermeintliche Ursache oder einen Zufallsbefund, so kann es zu einer Verstärkung der Beschwerdesymptomatik führen. Deshalb ist es entscheidend, diese Patienten zu erkennen und einer weiterführenden Diagnostik zuzuführen.

Hintergrund

Im Versorgungsgebiet eines sensiblen Nervs (im orofazialen Bereich des N. trigeminus) können aufgrund diverser Krankheitsbilder Gefühlsstörungen auftreten. Der Nerv kann mechanisch, chemisch-toxisch oder entzündlich bedingt geschädigt sein [8] durch Traumata, Infektionen, operative Eingriffe oder allgemeinmedizinische Erkrankungen (Diabetes mellitus), die Verabreichung von neurotoxischen Medikamenten (Chemotherapeutika) oder Genussgiften wie Alkohol.

Ein sensibler Nerv übermittelt in einem Regelkreis sensorische Reize afferent an die Schmerzmatrix im Gehirn. Treten innerhalb dieses Regelkreises Veränderungen auf, so kann es in der Folge zu einer peripheren oder zentralen Sensibilisierung kommen. Ebenso kann der Verlust der deszendierenden Hemmung in einer zentralen Sensibilisierung resultieren. Klinische Symptome sind unangenehme und schmerzhafte Empfindungen (Dysästhesie, Hyperalgesie, Allodynie).

Eine Schädigung des peripheren Nervs verändert die sensorische Wahrnehmung des Patienten und die Symptome sind sensible Ausfälle (Anästhesie, Hypästhesie, Parästhesie) infolge einer Deafferenzierung. Findet keine Regeneration des beeinträchtigten oder sogar geschädigten Nervens statt, so kann ein chronisches neuropathisches Schmerzsyndrom entstehen. Daher muss bei der klinischen Untersuchung der Patienten unbedingt eine grobe neurophysiologische Untersuchung durchgeführt werden. Hierdurch ergibt sich folgende Differenzierung:

a) Nozizeptive Schmerzen: Das periphere und das zentrale Nervensystem sind intakt.

b) Neuropathische Schmerzen: Das periphere oder das zentrale Nervensystem sind verletzt oder gestört. Neuropathische Schmerzen können im gesamten somatosensorischen System auftreten. Bei diesem Schmerz ist das Versorgungsgebiet eines sensiblen Nervens betroffen und/oder die Muster der Schmerzausbreitung passen zum Versorgungsgebiet einer geschädigten Nervenwurzel, eines Rückenmarksabschnitts oder eines zerebralen Bereichs. Es kann eine entsprechende Schädigung oder Erkrankung in der Anamnese gefunden werden. Als orofaziale Krankheitsbilder mit einer neuropathischen Komponente werden heute die Trigeminusneuralgie, die schmerzhafte Trigeminusneuropathie, das Burning Mouth Syndrome (BMS) und der anhaltende idiopathische Gesichtsschmerz (Persistent Idiopathic Facial Pain, PIFP) angesehen [9]. Symptome sind sensible Defizite und brennende Dauerschmerzen. Der Schmerz weist eine hohe Intensität auf.

Diagnostik chronischer Kiefer- und Gesichtsschmerzen

Die Diagnostik der chronischen Schmerzen erfordert ein strukturiertes Vorgehen. Die klinische Untersuchung basiert auf der Palpation von Muskeln und Gelenken, Perkussion der Zähne, thermischer oder elektrischer Stimulation der Pulpa. Ergänzend kommen radiologische Diagnostik und funktionsdiagnostische Tests zum Einsatz. Oftmals wird in großem Umfang (sowohl Anzahl als auch Frequenz) bildgebende Diagnostik durchgeführt. Um das Krankheitsbild jedoch ganzheitlicher zu erfassen, sollte die psychische Komponente möglichst frühzeitig erfasst werden. Eine insuffiziente Therapie nach Maßstäben einer Akutsymptomatik fördert die Chronifizierung und kann zu iatrogenen Schädigungen führen. Kritisch sollte hierbei auch eine unterschiedliche Interpretation der Ergebnisse basierend auf variablem Ausbildungs- und Wissensgrad gesehen werden. Kinder, Behinderte, Patienten mit einer kognitiven Beeinträchtigung oder Patienten mit einer Sprachbarriere stellen eine weitere Herausforderung dar. Somit ist bei Unsicherheiten in der Diagnostik und Therapie entsprechend interdisziplinär vorzugehen oder die Überweisung an ein Schmerzzentrum in Erwägung zu ziehen. Hier können Zahnarzt, Anästhesist, Neurologe, Orthopäde, Psychosomatiker, Psychologe, Hals-Nasen-Ohrenarzt, Augenarzt, Neurochirurg miteinbezogen werden. Ein strukturiertes Konzept mit speziell entwickelten Fragebögen und mit Vorlagen für Schmerzzeichnungen können bereits bei der Anamnese Hinweise auf das Krankheitsbild geben.

Die klinische Diagnostik sollte neben der konventionellen zahnärztlichen Basisdiagnostik auch ein neurophysiologisches Screening vor allem des N. trigeminus beinhalten. Dies ist für die Unterscheidung zwischen nozizeptivem und neuropathischem Schmerz essenziell. Gibt es Hinweise auf das Vorliegen einer neuropathischen Schmerzkomponente, so kann zur Präzisierung des Schmerzscreenings ergänzend der painDETECT-Fragebogen (www.paindetect.de) eingesetzt werden [10]. Dieser findet auch bei der chronischen Craniomandibulären Dysfunktion [11], bei schmerzhaften posttraumatischen Trigeminusverletzungen und Mundschleimhautbrennen Einsatz. Der painDETECT-Fragebogen [12] setzt sich aus Fragen zur Abschätzung der Schmerzintensität, der Schmerzdauer, des Schmerzmusters (anhaltende Schmerzen und/oder Schmerzattacken) und der Schmerzqualität (Brennen, Kribbeln) zusammen. Auch beinhaltet er Fragen zu Taubheitsempfindung und Hyperalgesie gegenüber Temperatur und Druck. Die Patienten werden ihrem painDETECT-Wert entsprechend einer möglichen neuropathischen Komponente klassifiziert.

Bei chronischen Schmerzpatienten kann es bereits aufgrund von neuroplastischen Veränderungen zu einer peripheren und/oder zentralen Sensitivierung gekommen sein. Als spezielles Untersuchungsverfahren hierfür und zur Erstellung eines individuellen sensorischen Profils wurde vom Deutschen Forschungsbund Neuropathischer Schmerz (DFNS) die Quantitative Sensorische Testung (QST) [13] entwickelt. Dieses Untersuchungsverfahren überschreitet die alltägliche zahnärztlich-sensorische Basisdiagnostik und vergleicht das betroffene Areal mit einem Referenzareal [14,15]. Es ist ein psychophysiologisches Diagnostikverfahren, welches nichtinvasiv die Funktionalität von myelinisierten A?-, A?-Fasern und unmyelinisierten C-Fasern (Small Fibers) überprüft. Es werden kalibrierte thermische und mechanische Reize appliziert. Am Ende der standardisiert durchgeführten Testbatterie ist ein komplettes sensorisches Profil erstellt. Es zeigen sich sensible Plus- und/oder Minuszeichen, wodurch sowohl periphere und/oder zentrale Sensitivierungen als auch neuropathische Störungen erkennbar werden.

Eine periphere Sensibilisierung kann durch eine Hitzehyperalgesie (A?- und C-Fasern) detektiert werden. Eine zentrale Sensibilisierung hingegen zeichnet sich durch eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber spitzen Reizen (A?- und C-Fasern) sowie durch Schmerzempfindlichkeit gegenüber leicht streichenden Berührungen (A?-Fasern) aus. Auch ist die Schmerzsummierung gegenüber spitzen Reizen (A?-Fasern) ein Zeichen der zentralen Sensitivierung. Eine Deafferenzierung, also eine Axonschädigung, wie sie bei einer Trigeminusneuropathie auftritt, kann in den betroffenen distalen Körperabschnitten durch eine Hypästhesie, ein vermindertes Empfindungsvermögen für leichte mechanische Berührung (A?-Fasern) und thermische Reize (Kälte A?- und Wärme C-Fasern) diagnostiziert werden. Auch ist die Schmerzempfindung gegenüber spitzen Reizen (A?- und C-Fasern) herabgesetzt. Gleichzeitig kann aber auch im betroffenen Haut- bzw. Schleimhautareal eine Plussymptomatik mit Hyperalgesie und Allodynie (Schmerzauslösung durch nicht schmerzhafte Reize wie z.B. Berührung) vorliegen. Früher wurde dieses klinische Bild als Anaesthesia dolorosa bezeichnet.

Die unterschiedliche Nomenklatur der Krankheitsbilder in der Literatur schafft Verwirrung, da zum Teil gleiche Krankheitsbilder unterschiedlich benannt werden [4,16,17]. Es wird wechselnd gemäß Topografie, Chronologie (akuter oder chronischer Schmerz) oder nach Ätiologie eingeteilt. Hier werden in der Folge die häufigsten Diagnosen aufgeführt:

1. Iatrogene Trigeminusschädigung/schmerzhafte Trigeminusneuropathie

Neuropathische Schmerzen können nach einer vollständigen Durchtrennung des N. trigeminus oder nur durch eine Kompression oder mechanische Verletzung bzw. chemisch-toxische Schädigung des entsprechenden peripheren Nervens auftreten. Hierbei kommt es zu einer Unterbrechung der Übertragung von somatosensorischen Signalen in das zentrale Nervensystem (Deafferenzierung). Ursächlich können zahnärztlich-chirurgische Maßnahmen wie Implantationen, Weisheitszahnentfernungen oder Dysgnathieoperationen vorliegen. Aber auch Traumata, Lokalanästhesieinjektionen, Infektionen oder Neoplasien können neben zahnärztlich- konservierenden Eingriffen (überpresstes Wurzelfüllmaterial) im Verlauf zur Entwicklung von neuropathischen Schmerzen führen [18].

Patienten beschreiben den Schmerz häufig als Dauerschmerz, jedoch können auch Attacken auftreten. Beweisend sind eine Hyp- oder Anästhesie (sensibles Defizit) im entsprechenden Ausbreitungsgebiet des peripheren Nervens sowie eine Allodynie (Schmerzen bei leichter Berührung) oder ebenso durch eine mechanische und thermische Hyperalgesie (Überempfindlichkeit gegenüber Hitze und Kälte) [19,20]. Der neuropathische Schmerz betrifft typischerweise das Versorgungsgebiet eines sensorischen Nervs. Eine zahnärztliche Behandlung stellt eine Herausforderung dar, da hierbei klassische Untersuchungs- und Therapieverfahren wie Sensibilitätstests oder Schleimhautkontakt mit Instrumenten kaum toleriert werden. Ebenso können sie falsch positive Aussagen hinsichtlich akut-entzündlicher Geschehen (Pulpitis) liefern. Von weiteren invasiven Therapien bei unklarerer Genese des Schmerzes ist abzusehen. Eine medikamentöse Behandlung kann die Symptome erheblich lindern.

2. Trigeminusneuralgie

  • Abb.1.: Die Trigeminusneualgie tritt attackenartig und meist unilateral auf.

  • Abb.1.: Die Trigeminusneualgie tritt attackenartig und meist unilateral auf.
    © Dr. Claudia Welte-Jzyk
Der Schmerz einer Trigeminusneuralgie ist normalerweise von sehr kurzer Dauer und produziert attackenartig einschießende Schmerzsensationen. Diese episodischen Neuralgien werden vor allem im Versorgungsgebiet eines oder mehrerer Trigeminusäste (v.a. 2./3. Ast) oder auch beim N. glossophyaryngeus gefunden. Sie treten meist unilateral auf. Die meist an die Wange und das Kinn ausstrahlenden Schmerzen können auch durch leichte Berührung an bestimmten Triggerpunkten ausgelöst werden [21]. Zähneputzen, Sprechen oder Kauen können so zu blitzartig einschießenden Beschwerden („Stromschlag“) führen (Abb. 1). Durch die starke Intensität des Schmerzes führt die Trigeminusneuralgie bei Betroffenen zu einer drastischen Reduktion der Lebensqualität. Kennzeichnend ist ein episodischer Verlauf auch mit schmerzfreien Intervallen, jedoch insgesamt deutlicher Progredienz.

Ursächlich wird bei der klassischen/idiopathischen Trigeminusneuralgie eine neurovaskuläre Kompression angenommen. Diese soll eine paroxysmale Störung verursachen, indem ein Blutgefäß durch Kompression auf den N. trigeminus am Austritt aus dem Hirnstamm eine fokale Demyelinisierung verursacht. Die Folge sind unphysiologische Aktionspotenziale und in der Folge bei der Diagnostik eine typische Anamnese. Somit kann möglicherweise therapeutisch über eine mikrovaskuläre Kompression (ablativ/ nicht ablativ) Abhilfe geschaffen werden.

Initial sollte jedoch medikamentös entgegengewirkt werden. Die beste Datenlage weist hierzu Carbamazepin auf. Aufgrund der ausgeprägten zerebralen Nebenwirkungen werden heute häufiger Antiepileptika (Gabapentin/Pregabalin) eingesetzt. Die Aufdosierung sollte dem/der entsprechenden Facharzt/-ärztin überlassen werden.

Eine zahnärztliche Behandlung kann nach einer adäquaten Schmerztherapie (z.B. Antikonvulsiva) erfolgen. Nachdrücklich ist von „Reihentrepanationen oder -extraktionen“ abzuraten.

3. Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz (Persistent Idiopathic Facial Pain, PIFP)

  • Abb. 2: Der PIFP erscheint als unilateraler Dauerschmerz.

  • Abb. 2: Der PIFP erscheint als unilateraler Dauerschmerz.
    © Dr. Claudia Welte-Jzyk
Die unterschiedlichen Bezeichnungen des Krankheitsbildes erscheinen hier auf den ersten Blick verwirrend. In der Literatur wird neben obiger Bezeichnung, die recht neu ist, auch von atypischer Odontalgie (Atypical Odontalgia), atypischem Gesichtsschmerz (Atypical Facial Pain, AFP), anhaltendem idiopathischem Gesichtsschmerz oder anhaltendem dentoalveolärem Schmerzsyndrom (Persistent Dentoalveolar Pain Disorder, PDAP) gesprochen. Eine Zuordnung zu einem sensorischen Areal eines peripheren Nervens ist nicht möglich. Im betroffenen Areal können sich Dysästhesien, Parästhesien und sensorische Ausfälle darstellen. Die typischen klinischen Zeichen einer schmerzhaften Trigeminusneuropathie fehlen jedoch. Frauen sind häufiger betroffen [22]. Die Schmerzlokalisation ist im dentoalveolären Bereich, vor allem im Bereich des Oberkiefers, oder infraorbital (Fossa canina; Abb. 2). Der Schmerz kann auch beim Fehlen von (jeglichen) Zähnen auftreten [23]. Es handelt sich um einen unilateralen Dauerschmerz. Häufig persistiert er nach Ausheilung der Grunderkrankung (z.B. Infektion) oder Verletzung [23]. Die Schmerzqualität wird als scharf, drückend, brennend beschrieben. Die Schmerzintensität ist mittel bis hoch.

Der Schmerz muss nicht zwingend durch ein skelettales Trauma ausgelöst sein, ursächlich können ebenso dentale Eingriffe wie Wurzelkanalbehandlungen, Extraktionen oder Implantationen sein [24]. Jedoch kann es ebenso zum Auftreten des Schmerzbildes ohne jeglichen kausalen Zusammenhang zu einer zahnärztlichen Therapie führen und eine unklare Genese vorliegen. Die Konsequenz sind unnötige Eingriffe, die jedoch bezüglich des Schmerzes keine Abhilfe oder Linderung schaffen [23–25]. Eine iatrogene Trigeminusschädigung bei sich überlagernden Symptomatiken könnte eine mögliche Folge von unnötigem Handeln seitens der Behandler werden. Empfehlenswert ist ein psychotherapeutisches Konsil, da das Vorliegen einer psychischen Komorbidität sehr häufig ist. Niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva (zum Beispiel Amitriptylin) können Linderung der Beschwerden bringen. Somit ist das Krankheitsbild oft eine Ausschlussdiagnose, wenn andere Ursachen (dentogen, neurogen) nicht nachweisbar sind [26].

4. Burning-Mouth-Syndrom (BMS; Mundschleimhautbrennen, Zungenbrennen, Glossodynie)

  • Abb. 3: Ein schmerzhaftes Brennen der Mundschleimhaut wird vor allem am Gaumen und der Zunge diagnostiziert.

  • Abb. 3: Ein schmerzhaftes Brennen der Mundschleimhaut wird vor allem am Gaumen und der Zunge diagnostiziert.
    © Dr. Claudia Welte-Jzyk
Das BMS gilt als typisches Beispiel für einen kontinuierlichen bilateralen und neuropathischen Schmerz [27]. Die Patienten beschreiben ein schmerzhaftes Brennen der Mundschleimhaut, vor allem klassischerweise am Gaumen und der Zunge (Abb. 3). Die Patienten sind permanent betroffen, jedoch mit Schmerzspitzen über den Tag und ebenso durch mögliche Triggerfaktoren beeinflusst. Für die Betroffenen stehen eine Dysästhesie und Dysgeusie im Vordergrund. Meist wird ebenso eine subjektive Mundtrockenheit angegeben. Zur Diagnostik bietet sich die QST an, welche einen Verlust an thermaler Wahrnehmungs- und Schmerzsensitivität ermittelt.

Es gilt, das primäre bzw. idiopathische Mundschleimhautbrennen (BMS) vom sekundären Mundschleimhautbrennen zu unterscheiden. Letzterem liegen lokale und/oder systemische Ursachen wie Herpes simplex, Candidiasis oder Stomatitis aphthosa zugrunde. Gleichermaßen finden sich ursächlich systemische Erkrankungen wie psychiatrische Grunderkrankungen, Vitamin-B12-, Folsäureund Eisenmangel. Ebenso können Kontaktallergien und mögliche medikamentös oder altersbedingte Xerostomien Auslöser sein. Beim primären bzw. idiopathischen Mundschleimhautbrennen (BMS) finden sich keine allgemeinmedizinischen oder lokalen Ursachen [26]. Mögliche andere ätiologische Faktoren wie Angst und Depression werden diskutiert. Mutmaßlich liegt eine Small- Fiber-Neuropathie zugrunde [28,29]. Beim primären BMS erfahren 30 bis 50% aller Patienten eine spontane Besserung. Als Risikogruppe lassen sich Frauen nach der Menopause identifizieren [30]. Therapeutisches Mittel der Wahl stellen bei einer neuropathischen Komponente trizyklische Antidepressiva dar. Alternativ werden Pregabalin, Gabapentin oder Alpha-Liponsäure rezeptiert. Eine profunde Literaturbasis mit allgemeingültigen Handlungsanweisungen für den Praktiker ist derzeit nicht existent [27]. Die steigende Zahl an aktuellen Reviews zeigt jedoch die Brisanz des Themas [32–36]. Generell sollte dennoch ein interdisziplinäres Vorgehen (Konsultation Hausarzt/Internist/psychosoziale Evaluation) eingeschlagen werden.

5. Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)

Eine Crandiomandibuläre Dysfunktion ist der häufigste auftretende Kiefer- und Gesichtsschmerz. Patienten mit einer chronischen CMD erfahren oft neben ihrer (kau-)funktionellen Einschränkung eine Hyperalgesie auf Tasten der Muskulatur und/ oder thermischer Stimulation. Die Hyperalgesie kann durch eine unzureichende endogene deszendierende Hemmung entstehen. Hierbei kommt es im Umkehrschluss sogar zu einer Schmerzsummation. Eine Chronifizierung der Sensitivierungsprozesse im nozizeptiven System kann eine weitere Folge sein. Fehlfunktionen des N. trigeminus können fälschlicherweise als Trigeminusneuralgie oder akuter dentogener Schmerz fehldiagnostiziert werden. Die Sensitivierung kann ebenso überall im Körper zu einer gesteigerten Empfindlichkeit führen [14]. In der „Orofacial Pain: Prospective Evaluation and Risk Assessment“-Studie (OPPERA) werden soziodemografische, genetische, klinische und psychologische Faktoren zur Entstehung der Craniomandibulären Dysfunktion beschrieben [38]. Diagnostisch findet das international anerkannte System (DC/TMD) seinen Einsatz. Seine 2 Achsen beschreiben zum einen ein standardisiertes Protokoll der klinischen Untersuchung (Achse I), zum anderen psychosoziale Aspekte (in Achse II) [39].

  • Abb. 4: Eine eingeschränkte Kieferbeweglichkeit und Störungen der Funktionalität sind Folge einer CMD.

  • Abb. 4: Eine eingeschränkte Kieferbeweglichkeit und Störungen der Funktionalität sind Folge einer CMD.
    © Dr. Claudia Welte-Jzyk
Die Kaumuskulatur ist druckschmerzhaft und hyperton. Andere Symptome können unspezifische orofaziale Schmerzen sein, eine eingeschränkte Kieferbeweglichkeit und Störungen der Funktionalität (Abb. 4). Einfluss auf das Ausmaß einer CMD können ebenso Kopf- oder Rückenschmerzen, viszerale Beschwerden wie das Reizdarmsyndrom und Unterbauchschmerzen oder psychogene Faktoren haben [21]. Am weitesten verbreitet wird der Faktor „Stress“ sein. Generell muss dann zuerst zwischen akutem und chronischem Stress unterschieden werden. Akuter Stress kann das Schmerzempfinden bis hin zur Analgesie verringern. Dies erfolgt über eine Aktivierung von schmerzmodulierenden Zentren vor allem im Bereich der rostralen ventromedialen Medulla. Chronischer Stress verstärkt das Schmerzempfinden. Durch Aktivierung von „ON Cells“, welche den nozizeptiven Input verstärken [40], kann es zu einer stressinduzierten Hyperalgesie kommen. Andere Faktoren wie Schlafstörungen, Erschöpfung und Hypertonie können ebenso zu einer generalisierten Hyperalgesie führen.

Ebenso kann als psychischer Faktor die Angst zu einer Tonuserhöhung der Muskulatur führen. Diese kann Schmerz auslösen; gleichermaßen kann Schmerz in der Muskulatur Angst auslösen. Somit lässt sie sich als Ursache, aber ebenso als Folge des Schmerzes sehen.

Klinische Relevanz

Bei der Diagnostik sollte von Anfang an klar zwischen akutem und chronischem Schmerzgeschehen differenziert werden. Fehleinschätzungen führen zu einer weiteren Chronifizierung und belasten das Zahnarzt-Patienten-Verhältnis. Um dies zu vermeiden, sollte ein strukturiertes Vorgehen gewählt werden. Hierzu zählt die erweiterte Diagnostik auf dem Boden eines biopsychosozialen Krankheitsmodells. Werden psychosomatische Aspekte erst am Ende einbezogen, so empfindet der Patient dies als Psychologisierung und Ausrede. Die Therapie chronischer Gesichtsschmerzen sollte interdisziplinär im Rahmen multimodaler Konzepte erfolgen.


Deklaration spezifischer Fachbegriffe (Anm. d. Red.):

Allodynie = ungewöhnliche Schmerzempfindlichkeit gegenüber Berührungs- und Temperaturreizen
Deafferenzierung = Ausschaltung der sensiblen Impulse (Afferenzen), entweder traumatisch bedingt oder durch operative Unterbrechung der segmentären sensiblen Fasern der hinteren Spinalnervenwurzeln
Demyelinisierung = degenerative Zerstörung der Myelinscheiden der Axone des Zentralnervensystems oder des peripherenNervensystems
Dysästhesie = der Wirklichkeit nicht entsprechende Wahrnehmung einer Sinnesempfindung
Dysgnathie = Fehlentwicklung, die zu einer abnormen Form und Funktion des Kiefers führt
Dysgeusie = Geschmacksstörung, pathologische Veränderung des Geschmackssinns
Hypästhesie = herabgesetzte Empfindlichkeit
Glossodynie = brennender oder stechender Zungenschmerz
Hyperalgesie = gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (bei bestimmten Nervenkrankheiten)
Parästhesie = Missempfindung, anomale Körperempfindung


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