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Praxisführung

Menschen mit Behinderungen: Ein entspannter Umgang in der Zahnarztpraxis machbar

Die Zahnmedizinischen Klinken der Universität Bern (ZMK) beschreiten gemeinsam mit Sensability neue Wege, um Hindernisse bei der Zahnbehandlung von Menschen mit Behinderungen abzubauen. Die praktische Auseinandersetzung mit den auftretenden Schwierigkeiten ist dabei zentral, denn die Anzahl der Menschen mit Behinderungen für Zahnarztpraxen ist nicht unbedeutend.

Oftmals kann es erforderlich werden, dass die Behandlung im Rollstuhl stattfinden muss. Flavia Trachsel
Oftmals kann es erforderlich werden, dass die Behandlung im Rollstuhl stattfinden muss.
Oftmals kann es erforderlich werden, dass die Behandlung im Rollstuhl stattfinden muss.

Die Behandlung von Menschen mit Behinderungen gehört zum Alltag in einer Zahnarztpraxis. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da je nach Statistik 15 bis 20% der Bevölkerung mit Behinderungen leben – diese Zahlen gelten laut WHO weltweit. Genaue Statistiken fehlen jedoch auch in europäischen Staaten weitgehend. Insbesondere fehlen Erhebungen zu den einzelnen Behinderungsgruppen.

Es liegt auf der Hand, dass abhängig von den zugrundeliegenden Kriterien riesige Unterschiede hinsichtlich der ermittelten Anzahl bestehen. Bei einem administrativen Modell, das auf Leistungen einer öffentlichen oder privaten Verwaltungsstelle basiert, sind eher tiefere Zahlen zu erwarten. Durch das Modell der „Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF, International Classification of Functioning, disability and Health), welche die ungünstigen Wechselwirkungen zwischen einer Person, ihren Körperfunktionen und ihrem Umfeld im Auge hat, werden weit mehr Menschen erfasst.

In der Gesundheitsversorgung besteht ein gewisser Bedarf an genaueren Zahlen, damit in einem politischen Prozess angemessene Ressourcen für den Aufbau von Grundlagenwissen, für die Behandlung sowie für die Aus- und Fortbildung bereitgestellt werden können. Für die tägliche Arbeit in der Zahnarztpraxis hat die genaue Anzahl von Menschen mit Behinderungen jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung.

Hier ist das Bewusstsein wichtig, dass sich rund jede fünfte Person der zu behandelnden Menschen mit Hindernissen konfrontiert sieht, die für zahnmedizinische Behandlungen relevant sind.

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Sei dies, weil die Behandlung im Rollstuhl stattfinden muss, sei es, dass Behandlungsvorgänge anders erklärt werden müssen, weil die Patienten wenig oder nichts sehen oder hören, oder weil das Verständnis für notwendige medizinische Eingriffe nicht vorhanden ist, um nur einige Beispiele zu nennen.

Kompetenzlücken erkannt

Die Zahnmedizinischen Kliniken der Universität Bern (ZMK) haben wegen der beschriebenen Situation sowohl einen Bedarf für die Ausbildung als auch für die Fortbildung von Zahnmedizinern in der Praxis erkannt. Prof. Dr. med. dent. Martin Schimmel, Direktor der Klinik für rekonstruktive Zahnmedizin und Gerodontologie, entwickelte gemeinsam mit Sensability Vorlesungsmodule und ein Fortbildungsangebot, in welchen Handlungsansätze für die beschriebenen Herausforderungen vermittelt werden. Sensability wurde als Partner gewählt, weil damit auf die Expertise von Selbstvertretern aus allen Behinderungsarten zurückgegriffen werden kann. Zudem sind die Experten von Sensability speziell geschult, um Sensibilisierungs- und Schulungsanlässe durchzuführen und Beratungsaufträge zu übernehmen.

Diese praktische Ausrichtung steht zudem im Einklang mit den Verpflichtungen, die sich aus der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) für Gesundheitsdienstleistungen ergeben. Artikel 25 der UNO-BRK widmet sich dem Thema Gesundheit und hält einführend fest: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung.“

Die Konvention trat in Deutschland 2009, in der Schweiz fünf Jahre später in Kraft. Beide Staaten verpflichten sich, Menschen mit Behinderungen eine erschwingliche Gesundheitsversorgung derselben Bandbreite und Qualität anzubieten wie für andere Menschen. Voraussetzungen dafür sind neben ethischen Normen für die staatliche und private Gesundheitsversorgung eine fundierte Schulung des Bewusstseins für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen.

Behinderungen als Herausforderung in der zahnärztlichen Praxis

Die Teilnehmenden der erwähnten Aus- und Fortbildungsanlässe an den Zahnmedizinischen Kliniken bestätigen die fehlende Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, daraus entstehende Unsicherheiten, aber auch zum Teil kaum überwindbare Probleme bei der Behandlung. Auch aus der Sicht der betroffenen Menschen mit Behinderungen zeigt sich, dass die Haltung und das zugrundeliegende Menschenbild, mit welchem ihnen in der Praxis begegnet wird, also ob eine Willkommenskultur herrscht und wie Empathie gelebt wird, einen großen Einfluss auf ihr Wohlbefinden vor und während des Behandlungsprozesses haben.

Eine besondere Kunst ist es – und dies wird von aufgeklärten und sensibilisierten Patienten zunehmend eingefordert – sie partizipativ in den Behandlungsprozess miteinzubeziehen. Dafür braucht es eine hohe Sensibilität und ein fundiertes Wissen seitens des Gesundheitspersonals.

Zudem ist einem hindernisfreien Umfeld Beachtung zu schenken. Insbesondere die Vorinformation, die Anreise, die administrativen Abläufe, die Praxisräumlichkeiten mit Garderobe, Wartezimmer, Empfang und Toilette sowie die Kommunikation setzen für den eigentlichen Behandlungsprozess einen Rahmen, der ebenfalls barrierefrei zu gestalten ist.

Formen der Aus- und Fortbildung

In den Praxisräumen werden notwendigen Erklärungen für Menschen mit Sehbehinderungen und die Kommunikation mit Menschen mit Hörbehinderungen eingeübt. Flavia Trachsel
In den Praxisräumen werden notwendigen Erklärungen für Menschen mit Sehbehinderungen und die Kommunikation mit Menschen mit Hörbehinderungen eingeübt.

Um diesen Bedarf abzudecken, werden seit einigen Jahren an den ZMK drei unterschiedliche Aus- und Fortbildungen angeboten. Ein praktischer Vorlesungsteil „Perspektivenwechsel“ für Studierende der Zahnmedizin im 3. Studienjahr, ein Vorlesungsmodul „Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen“ im Rahmen der allgemeinen Kommunikationsvorlesung im 5. Studienjahr und eine Fortbildung „Der entspannte Umgang mit Patienten mit Behinderungen“ für Mitarbeitende von Zahnarztpraxen. Letztere Fortbildung wird nachfolgend vorgestellt.

Der entspannte Umgang mit Patient/-innen mit Behinderungen

Die halbtägige praktische Fortbildung richtet sich an Einzelpersonen oder Praxisteams, welche die Anforderungen von Menschen mit Behinderungen kennenlernen und Hinweise für einen sicheren und wertschätzenden Umgang erhalten wollen. Das Programm beinhaltet eine kurze Einführung in die verschiedenen Behinderungsarten und Berichte von Menschen mit Behinderungen über ihre Bedürfnisse und Erfahrungen beim Besuch einer Zahnarztpraxis.

Es folgt ein Perspektivenwechsel in Kleingruppen von maximal 6 Personen. Mit simulierten Mobilitäts-, Seh- und Hörbehinderungen gilt es, sich einerseits in einem Praxisumfeld an den Zahnmedizinischen Kliniken zu bewegen und Praxissituationen zu simulieren. Andererseits geht es darum, zu erkunden, ob die Praxis überhaupt erreichbar und zugänglich ist.

Der Weg von der nächstgelegenen Haltestelle des öffentlichen Verkehrs bis zur Praxis ist durch die Teilnehmenden unter den simulierten Einschränkungen zu bewältigen. In den Praxisräumen werden dann zum Beispiel der Transfer vom Rollstuhl in den Behandlungsstuhl, die notwendigen Erklärungen für Menschen mit Sehbehinderungen und die Kommunikation mit Menschen mit Hörbehinderungen eingeübt.

Abschließend werden im Austausch mit den Experten aus den verschiedenen Behinderungsarten Fragen erörtert, wie praktische Schritte hin zu einer hindernisfrei(eren) Zahnbehandlung, inklusive deren Umfeld, konkret aussehen könnten. Ein lehrreiches Erlebnis ist ebenfalls die Kaffeepause, während der die simulierten Behinderungen beibehalten werden.

Dadurch wird der Fokus etwas verschoben und man kann sich in ein Teammitglied mit Behinderungen hineinversetzen. Alle praktischen Kursteile werden von qualifizierten Personen mit den entsprechenden Behinderungen geleitet, womit die nötige Expertise sichergestellt wird.

Wenig Hilfreiches für Personen mit Sehbehinderungen

Kommt eine Person mit Sehbehinderungen in die Praxis, wird sie gemäß ihren Wünschen durch Sprache geleitet und auch geführt. Flavia Trachsel
Kommt eine Person mit Sehbehinderungen in die Praxis, wird sie gemäß ihren Wünschen durch Sprache geleitet und auch geführt.

Die Bedürfnisse von Menschen mit Sehbehinderungen betreffen neben der Orientierung in den Praxisräumen auch die auditive, taktil unterstützte Kommunikation. So muss die Kommunikation im Vorfeld einer Behandlung in elektronischer Form geführt werden, damit diese von Hilfsgeräten in Sprache ausgegeben werden kann. Das selbstständige Ausfüllen von Formularen ist meist nicht möglich.

Persönliche Patientendaten sollen deshalb mündlich abgefragt und Formulare durch das Praxispersonal ausgefüllt werden. Dies erfolgt aus Diskretionsgründen in einem Raum, der ein Mithören von anderen Patienten ausschließt. Kommt eine Person mit Sehbehinderungen in die Praxis, wird sie gemäß ihren Wünschen durch Sprache geleitet oder geführt.

Es wird deutlich und in ruhiger Umgebung gesprochen, dies stets direkt mit der Patientin und nicht mit einer allfällig anwesenden Begleitperson. Führhunde sind wichtige Hilfsmittel und werden, wenn immer möglich, in allen Räumen zugelassen.

Patienten sollen eine Vorstellung von der Behandlung erhalten, da sie die Abläufe nicht visuell mitverfolgen können. Der Behandlungsablauf wird vorgängig erklärt und anschließend ausgeführt.

Röntgenbilder werden durch das zahnmedizinische Personal verbal erläutert. Für Erklärungen werden ertastbare Modelle eingesetzt. Begriffe wie „hier“ und „dort drüben“ werden durch präzise Umschreibungen ersetzt, wie „spülen Sie den Mund mit Wasser; der Becher steht auf dem Tisch unmittelbar links neben Ihnen“.

Nicht nur Personen im Rollstuhl schätzen die Kommunikation auf Augenhöhe

Patienten mit Behinderungen verfügen über verlässliches Wissen in eigener Sache. Sie können wichtige Erfahrungen und Hinweise einbringen, welche die Behandlung oder Betriebsabläufe unterstützen.

Bedürfnisse sollen aktiv nachgefragt werden, Unterstützungshandlungen werden erst auf ausdrücklichen Wunsch ausgeführt. Dieses Verhalten bewirkt einen sehr entspannten Umgang: Die Person mit Behinderungen weiß, dass sie Unterstützung erhalten kann, die Mitarbeitenden wissen, dass sie gefragt und angeleitet werden, wenn Bedarf besteht. So werden auch Hinweise der Patienten zu ihren individuellen Bedürfnissen bei einem notwendigen Transfer auf den Behandlungsstuhl beachtet.

Allfällige Besonderheiten, auf die bei der Behandlung geachtet werden muss (z.B. Spastik), werden zu Beginn erfragt. Auf infrastruktureller Ebene können Hindernisse oftmals mit wenig Aufwand abgebaut werden. Beim Empfang ist ein Teil der Theke auf Tischhöhe abgesenkt und unterfahrbar, oder es steht ein separater Tisch zur Verfügung. Auf Türschließer wird wenn immer möglich verzichtet oder die Türen werden mit Motor ausgerüstet und durch Schalter bedienbar gemacht, die nicht höher als 80 cm montiert sind.

Eine gemeinsame Kommunikationsebene finden bei Hörbehinderungen

Menschen mit Hörbehinderungen haben große Fähigkeiten, aufgrund eines Bruchteils des Gesagten, das für sie verständlich ist, auf den gesamten Inhalt zu schließen. Diese mentale Leistung wird durch die Hörenden unterstützt, indem einfache Grundregeln beachtet werden. Dazu gehört beispielsweise die Bekanntgabe des Themas zu Beginn eines Gesprächs oder die Ankündigung von Fragen.

„W-Fragen“ sind einfach zu verstehen, z.B. „Ich frage Sie, warum sind Sie zu mir in die Praxis gekommen?“. Hilfreich sind langsames und deutliches Sprechen, jedoch ohne ein übertriebenes Mundbild, kurze Sätze, das Vermeiden von Fremdwörtern und das Halten des Blickkontakts beim Sprechen.

Eine gute Beleuchtung ist Voraussetzung für das erfolgreiche Lippenlesen. Wichtige Informationen können aufgeschrieben werden. Das Nachfragen, ob Gesprächsinhalte verstanden wurden, ist hilfreich, weil Menschen mit Hörbehinderungen sich oft schämen und deshalb nicht selbst sagen, dass sie etwas nicht verstanden haben.

Für eine erste Behandlung ist es enorm hilfreich, wenn Gebärdendolmetscher anwesend sind. Für einen allfälligen Behandlungsunterbruch oder -abbruch werden Handzeichen vereinbart.

Aufmerksamkeit kann durch Winken erreicht werden. Damit ein positives Klima geschaffen werden kann, ist das Lernen einiger Ausdrücke in Gebärdensprache sehr hilfreich und sinnvoll.

Rückmeldungen und Erfahrungen

Von den Teilnehmenden werden die Fortbildung „Der entspannte Umgang mit Patient/-innen mit Behinderungen“ insgesamt und deren Inhalt überaus positiv bewertet. Über 90% der Rückmeldungen auf 10 Evaluationsfragen sind auf der Stufe der höchsten Bewertung. Beim Umfang wird oft angemerkt, dass „viel zu wenig Zeit für ein solch spannendes und umfassendes Thema“ zur Verfügung stehe.

Zudem wird der direkte Austausch mit den Experten mit Behinderungen geschätzt. Gewünscht werden noch „mehr Tipps und Tricks“. Die konkreten Änderungsvorschläge betreffen allesamt die Themen „bessere Vertiefung“ und „mehr Zeit für Übungen“.

Bei den einzelnen Übungen werden als eindrücklichste Erfahrungen im Bereich Sehbehinderungen die Überquerung einer Straße, die Erfahrung der unmittelbaren Hilflosigkeit und das notwendige Vertrauen zur Begleitperson erwähnt. Als Rollstuhlfahrende fällt den Teilnehmenden auf, dass kleinste Absätze und Neigungen zu unüberwindbaren Hindernissen werden und sich die Perspektive stark verändert, wenn sich der eigene Kopf auf Gesäßhöhe der Fußgänger befindet.

Bei den Simulationen im Bereich Hörbehinderungen wird als besonders eindrücklich wahrgenommen, wie schnell man isoliert wird, wenn die Kommunikation nicht wie gewohnt erfolgen kann. Eindrücklich ist aber auch, wie eine einfache Kommunikation möglich wird, wenn die Regeln wie Blickkontakt, einfache Sätze und gute Beleuchtung eingehalten werden.

Fazit

Die Aus- und Fortbildungsangebote im Bereich der (Zahn-)Medizin werden auf der Basis der Erkenntnisse aus den Evaluationen laufend weiterentwickelt. Insbesondere können künftig allenfalls auch kürzere, themenspezifische Zusatzangebote entwickelt werden.

Dabei ist auch an die Form von Webinaren zu denken. Die überaus positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden und der offensichtliche Bedarf motivieren die Veranstalter dazu, in diesem Bereich aktiv zu bleiben.

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