Praxisführung

Teil 2: Epidemiologie und Bedeutung der Erkrankung für den Patienten

Die Herausforderung bei der Behandlung von Demenzpatienten

02.04.2019

© Edler von Rabenstein/fotolia
© Edler von Rabenstein/fotolia

Um zu verstehen, wie wir mit demenzkranken Patienten kommunizieren können, ist es zielführend, sich mit den Hintergründen der Erkrankung auseinanderzusetzen. Im 1. Teil dieser Artikelserie (ZMK 3/2019) hat der Autor die Grundlagen der Demenz erläutert. Im nachstehenden 2. Teil geht er auf die Epidemiologie sowie Bedeutung der Erkrankung für den Betroffenen ein und gibt eine Einführung in die Kommunikation.

  • Abb. 1: Definition der Demenz (nach ICD-10 Kriterien) – modifiziert nach Stoppe und Müller [11].

  • Abb. 1: Definition der Demenz (nach ICD-10 Kriterien) – modifiziert nach Stoppe und Müller [11].
    © Wolfram Jost
Per definitionem wird von einer Demenz gesprochen, wenn neben einer Gedächtnisstörung wenigstens noch eine weitere kognitive Beeinträchtigung vorliegt bzw. wenn ein Schweregrad erreicht ist, der ein „Funktionieren im Alltag“ beeinträchtigt und damit die soziale Kompetenz infrage stellt (Abb. 1).

Epidemiologie der Demenzerkrankungen

Primäre Demenzerkrankungen

Primäre Demenzerkrankungen haben ihren Ursprung im Gehirn, weshalb sie auch als hirnorganische Demenzen bezeichnet werden. Die Alzheimer-Demenz, die vaskuläre Demenz, z.B. als Folge von apoplektischen Insulten, und die gemischte Demenz, ein gleichzeitiges Auftreten von Alzheimer-Demenz und vaskulärer Demenz, sind die häufigsten primären Demenzen.

  • Abb. 2: Epidemiologie der Demenzerkrankungen – modifiziert nach Stoppe und Müller [11].

  • Abb. 2: Epidemiologie der Demenzerkrankungen – modifiziert nach Stoppe und Müller [11].
    © Wolfram Jost
Diese 3 Demenzformen machen ca. 80% aller primären Demenzen aus. Andere primäre Demenzformen sind die Lewy-Körper- Demenz, die frontotemporale Demenz, Demenz bei der Creutzfeld- Jakob-Erkrankung, Demenz bei Morbus Parkinson und Demenz als Folge von AIDS sowie andere seltene Demenzen, die insgesamt ca. 20% aller primären Demenzen ausmachen (Abb. 2).

Sekundäre Demenzen

Sekundäre Demenzen sind Folgeerscheinungen, die auf über 50 verschiedenen Grunderkrankungen beruhen, wie beispielsweise Stoffwechselerkrankungen, Vitaminmangelzuständen oder chronischen Vergiftungserscheinungen (z.B. durch Alkohol, Drogen und Medikamentenabusus). Da diese Demenzen meist reversibel bzw. teilweise reversibel sind, ist eine umfassende internistische Diagnostik notwendig, um entsprechende therapeutische Schritte einzuleiten.

Demenzkranke sind häufig multimorbide und unterliegen in der Regel einer ausgeprägten Polypharmazie. Beim Verstehen der Medikation und der sich daraus ergebenden Risiken kann eine Software behilflich sein, die für eine geringe Gebühr im Download erhältlich ist: www.mizdental.de.

Pathogenese der Alzheimer- und vaskulären Demenz

Die neurodegenerativen Prozesse bei Alzheimer-Demenz sind makroskopisch charakterisiert durch den fortschreitenden Abbau der Gehirnmasse (= Hirnatrophie). Nervenzellen und ihre Synapsen gehen zugrunde. Mikroskopisch sind – für diese Erkrankung charakteristische – Eiweißablagerungen zu erkennen, die als amyloide Plaques und neurofibrilläre Tangels bezeichnet werden. Diese mikroskopischen Veränderungen sind bereits Jahre vor den ersten klinischen Symptomen erkennbar.

  • Abb. 3: Alzheimer versus vaskuläre Demenz – modifiziert nach Haberstroh und Pantel [6].

  • Abb. 3: Alzheimer versus vaskuläre Demenz – modifiziert nach Haberstroh und Pantel [6].
    © Wolfram Jost
Der Abtransport der Eiweißablagerungen geschieht durch das erst 2012 entdeckte glymphatische System (= Kunstwort aus „Glia“ und „lymphatisch“). Das glymphatische System sorgt für den Abtransport von Abfallstoffen aus dem Gehirn. Dabei konnte bis heute noch nicht geklärt werden, ob das glymphatische System überlastet ist oder ob eine vermehrte Produktion von Abfallstoffen vorliegt. Seit 2015 wird auch der parodontalpathogene Keim Porphyromonas gingivalis für die Entstehung von Alzheimer-Demenz mitverantwortlich gemacht [3a].

Die vaskuläre Demenz ist die Folge von multiplen Schlaganfällen. Im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz bleibt das Kurzzeitgedächtnis länger erhalten. Dagegen sind fokale Symptome wie zum Beispiel Lähmungen vorhanden. Der Verlauf von Alzheimer- und vaskulärer Demenz ist unterschiedlich [14]. Legt man die beiden Verlaufskurven nebeneinander, ergibt sich die in Abbildung 3 dargestellte Grafik.

Neben genetischer Prädisposition zählen entzündliche Prozesse (z.B. Parodontitis) oder Infektion, Cholesterin, Trauma, Diabetes und Bluthochdruck, Aluminium [5] sowie Feinstaub [2] zu den Risikofaktoren für eine Demenzerkrankung. Im höheren Lebensalter sind häufig multimorbide Menschen anzutreffen, sodass die Entwicklung der Alzheimer-Demenz von anderen Demenzformen, insbesondere der vaskulären Demenz, überlagert wird (gemischte Demenz).

Demenzdiagnostik

  • Abb. 4: Geriatrische Depressionsskala (GDS – verkürzt).

  • Abb. 4: Geriatrische Depressionsskala (GDS – verkürzt).
    © Wolfram Jost
Die Demenzdiagnostik gehört in die Hände des Neurologen. Selbst eine einfache Demenzdiagnostik mit „Uhrentest“ [8] und Mini-Mental-Status-Test (MMST) sprengt den Rahmen einer Zahnarztpraxis. Im 1. Teil der Artikelserie wurden einige Tipps gegeben, wie man als Zahnärztin, Zahnarzt oder zahnmedizinische(r) Fachangestellte(r) den Verdachtsbefund auf eine Demenzerkrankung stellen kann, der anschließend beim Hausarzt abzuklären ist. Da insbesondere die Alzheimer-Demenz von einer Depression eines alternden Menschen im Anfangsstadium nicht leicht zu unterscheiden ist, soll hier die geriatrische Depressionsskala (GDS) kurz erwähnt werden (Abb. 4), die bei Verdacht auf Depression auch bei anderen Patienten in der Zahnarztpraxis hilfreich sein kann. Bei einer Gesamtpunktzahl von „4“ ist eine Depression sehr wahrscheinlich.

Was bedeutet die Demenzerkrankung für den Betroffenen?

Die Fähigkeit, sich in den demenzkranken Patienten hineinversetzen zu können, führt zum besseren Verständnis seiner Verhaltensweisen. Was also empfindet ein demenzkranker Patient?

  • Bewusstseinszustand wie beim Aufwachen
    Traum und Realität sind mit fortschreitender Demenz kaum noch zu unterscheiden.
  • Unterschiede in der Krankheitswahrnehmung
    Jeder Demenzkranke geht anders mit seiner Krankheit um. Intellektuelle verstehen lange ihre Demenz zu verbergen, sodass das Auftreten als „plötzlich“ wahrgenommen wird.
  • Herausforderung „Alltag“
    Besonders im Frühstadium der Demenz nehmen Patienten die zunehmende Auslöschung als besonders belastend wahr, was zu depressiven Phasen führt. Sie vermeiden Situationen, die von ihnen als belastend empfunden werden (z.B. Autofahren, Kontakt mit Freunden, der Zahnarztbesuch). Es kommt zum Verlust der Selbstständigkeit und zur Vereinsamung. Fehlende Sozialkontakte fördern die Demenz.
  • Problem der Reizüberflutung
    Ein Mensch mit Demenz kann wichtige Informationen nicht mehr aus allen einströmenden Informationen herausfiltern. Das führt zu einer verwirrenden Reizüberflutung. Zusätzlich verlieren Betroffene die Fähigkeit, sich aus solchen Situationen zu befreien, und sind ihnen hilflos ausgeliefert.
  • Heimweh
    Demenzkranke Patienten äußern manchmal den Wunsch, „nach Hause“ zu wollen (selbst bei einem Hausbesuch), oder rufen nach ihrer Mutter oder ihrem verstorbenen Ehepartner. Dann befinden sie sich in einer Situation, die ihnen Angst macht (beispielsweise durch Reizüberflutung). Sie brauchen in diesem Fall Zuwendung und es nützt wenig, ihnen zu erklären, dass sie zu Hause sind oder ihre Mutter bereits verstorben ist.
  • Verlust der Selbstständigkeit
    Die Demenzerkrankung führt dazu, dass die Personen zunehmend auf fremde Hilfe angewiesen sind. Solange die kognitiven Fähigkeiten des an Demenz erkrankten Menschen noch ausreichen, werden ihm die Defizite bewusst. Depressive Phasen und manchmal auch Aggressivität sind die Folge. Trotz der zunehmenden Hilflosigkeit besitzen Demenzkranke noch lange das Selbstbild, die alltäglichen Anforderungen zu meistern. Im mittleren Stadium der Demenz bestehen jedoch bereits große Defizite in den Alltagskompetenzen. Später entsteht das Bewusstsein für den Verlust der Selbstständigkeit. Das führt zur Depression und zu herausforderndem Verhalten.

Folgen für die Kommunikation

Demenzkranke Menschen können kommunizieren und wollen das auch. Sie wollen Sozialkontakte. Ihr Handeln und ihre Reaktionen auf Außenreize sind für sie selbst adäquat, resultieren aus ihrer eigenen Wahrnehmung und ihrem Selbstbild. Auch wenn Demenzkranke in vielen Reaktionen, Verhaltensweisen und Äußerungen kindlich wirken, sind sie doch keine Kinder. Sie sind erwachsene Menschen mit Lebenserfahrung und einer Persönlichkeit. Sie haben in ihrem Leben Erfahrungen gemacht, die nun im Laufe der Demenzerkrankung nach und nach ausgelöscht werden. Durch den Verfall des Kurzzeitgedächtnisses, die zunehmende Unfähigkeit, eingehende Informationen zu sortieren und zuzuordnen, und die Auslöschung von Erinnerungen werden sie immer hilfsbedürftiger.

Trotz aller kognitiven Einbußen infolge der Demenzerkrankung führt diese nicht zum Persönlichkeitsverlust. Die Persönlichkeit bleibt genauso erhalten wie die Würde des Menschen, sie äußert sich nur nicht mehr in der Weise, wie wir Gesunde es gewohnt sind. Deswegen im Rahmen der Kommunikation in Kindersprache oder gar „Baby-Talk“ zu verfallen, die Demenzkranken zu duzen und mit Oma oder Opa anzureden, ist nicht nur entwürdigend, sondern schadet den Demenzkranken. Die Frustration über die Einbußen der kognitiven Fähigkeiten, die im 1. Stadium der Demenz und am Anfang des 2. Demenzstadiums von den erkrankten Menschen noch wahrgenommen wird, führt zu sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen, die sich in Weglaufen, Schreien und manchmal auch körperlicher Gewalt äußern. Manche ziehen sich auch, abhängig von ihrer Persönlichkeit, in ihr Schneckenhaus zurück, werden apathisch und depressiv. Wir Gesunden, die wir im Rahmen unseres Berufes oder auch privat mit den Demenzkranken in Kontakt treten wollen, sind in der Lage, die Besonderheiten der Kommunikation zu erlernen.

Fallbeispiel anhand eines Kommunikationsmodells (Abb. 5)

  • Abb. 5: Kommunikationsmodell – modifiziert nach Haberstroh und Pantel [6].

  • Abb. 5: Kommunikationsmodell – modifiziert nach Haberstroh und Pantel [6].
    © Wolfram Jost
Eine Frau kommuniziert mit einem demenzkranken Mann. Die Frage „Möchten Sie eine Tasse Tee?“ besitzt neben dem Inhalt eine emotionale Botschaft, bestehend aus einem Beziehungsaspekt (z.B. Tochter, Krankenschwester, Enkelin) und einem Gefühl. Ein positives Gefühl als emotionale Botschaft erregt die Aufmerksamkeit des demenzkranken Mannes, da bei Demenzkranken Emotionen noch bis in die letzte Phase der Demenz verstanden werden. Trotzdem kann es zu Schwierigkeiten auf der Ebene der Aufmerksamkeit, des Verstehens und des Behaltens kommen. Die Aufmerksamkeit kann reduziert sein, da der demenzkranke Mann einen Film sieht, der ihn fesselt. Ebenfalls kann seine ganze Aufmerksamkeit seinem eigenen Gehen gelten, sodass er die Botschaft der Frau nicht wahrnimmt. Das Verstehen kann reduziert sein, weil er die Information nicht zuordnen kann (defekter Sortierer). Das Behalten ist Voraussetzung, dass der demenzkranke Mann die Information kurz zwischenspeichern kann (Kurzzeitgedächtnis), um eine Entscheidung zu treffen, ob er einen Tee möchte oder nicht. Ist das Kurzzeitgedächtnis jedoch in seiner Funktion gestört, kann der demenzkranke Mann keine Antwort geben.

Fazit

Jeder Demenzkranke besitzt eine sehr persönliche Ausprägung seiner Erkrankung. Dadurch ist der Umgang mit ihm sehr individuell und lässt sich nicht verallgemeinern. Jeder, der einen Betroffenen kennt, kennt genau den einen Demenzkranken und muss andere erst kennenlernen. An Demenz erkrankte Menschen sind häufig multimorbide Patienten, weshalb neben den Schwierigkeiten der Kommunikation und damit der Patientenführung auch andere Erkrankungen berücksichtigt werden müssen. Die Demenzdiagnostik ist vielschichtig und gehört in die Hände eines Facharztes. Die Empfindungen eines Demenzkranken nachvollziehen zu können hilft, ihn zu verstehen, und erleichtert so die Kommunikation. Wenn wir erkennen, auf welcher Kommunikationsebene Probleme bestehen, sind wir in der Lage, uns gezielt auf die individuellen Schwächen des Demenzkranken einzustellen und seine Stärken für eine gelungene Kommunikation zu nutzen.

Im 3. Teil der Artikelserie werden die Kommunikationsstärken und -schwächen des Demenzkranken, Probleme in der Kommunikation und deren Lösungen thematisiert.


Weitere Informationen:

Der Autor gibt zum Thema „Der dementiell veränderte Patient“ am 30. August 2019 (14:00-18:00 Uhr) einen Kurs am Fortbildungsinstitut der ZÄK Bremen (Kurs Nr. 19205).

Fortbildungsinstitut der Zahnärztekammer Bremen
Universitätsallee 25, 28359 Bremen
www.fizaek-hb.de

Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Wolfram Jost