Praxisführung


Zur medizinischen Notwendigkeit der Individualprophylaxe

Quelle: © Alexandra H./pixelio.de
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In das Zentrum zahnärztlicher Aufmerksamkeit rückt die (zahn-)medizinische Notwendigkeit regelmäßig, wenn Erstattungsstellen unter dem Vorwand fehlender Erforderlichkeit die Übernahme von Behandlungskosten verweigern und die überraschten Patienten die Ursache des Ärgers in der Praxis suchen. Da bei bestrittener Erforderlichkeit von Heilmaßnahmen der Zahnarzt regelmäßig in den Konflikt seines Patienten mit dessen Versicherung hineingezogen wird, ist die Kenntnis um die medizinische Notwendigkeit und speziell um ihre Grenzen für jeden liquidationsberechtigten Zahnarzt bedeutsam. Die folgenden Gedanken beleuchten am Beispiel der Individualprophylaxe, wo das Notwendige in der Medizin beginnt beziehungsweise endet.

Vorsorgliches Handeln ist traditioneller Bestandteil der Heilkunst. Bereits aus der Antike ist die ärztliche Handlungsmaxime „primum nihil nocere“ überliefert, wonach der Patient zuerst vor Schaden zu bewahren ist. Prophylaxe, und Prävention, aus dem Lateinischen „praevenire“ für „zuvorkommen“ sind gleichbedeutende Ausdrücke für Vorbeugung.

Zur Reduzierung von Karies und Erkrankungen des Zahnbettes ist die Individualprophylaxe (IP) in der zahnärztlichen Praxis – neben der Gruppenprophylaxe mit mundhygienischen Unterweisungen in Schulen und Kindergärten – etabliert und genießt eine hohe professionelle Akzeptanz [23]. Weil allgemeine Appelle an gesundheitsbewusstes Verhalten oft ungehört verhallen, wird „gerade in der Zahnarztpraxis der Weg ... hin zur Individualprophylaxe angestrebt“ [40]. Die IP ist in einer gemeinsamen Informationsschrift der Bundeszahnärztekammer und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) für die Öffentlichkeit als ein in ihren Grundzügen vereinheitlichtes Vorgehen beschrieben [13]. Elementare Bestandteile der IP sind demnach Befunderhebung, Patientengespräch, professionelle Zahnreinigung PZR und Fluoridierung. Die vorgenannte Informationsschrift bezeichnet den gesamten beschriebenen individualprophylaktischen Leistungskomplex der Einfachheit halber als professionelle Zahnreinigung (PZR). Die Ausgestaltung der IP/PZR kann natürlich individuell von dem beschriebenen Standard abweichen. Auch beinhalten präventiv orientierte zahnärztliche Behandlungskonzepte weitere Maßnahmen, die indikationsgebunden zur Anwendung kommen. Hierunter fallen insbesondere diverse Untersuchungen zur Früherkennung und Risikobewertung von Karies und Parodontitis sowie Fissurenversiegelungen.

Problemstellung

Die IP/PZR wird unterschiedlich bewertet. So wurde sie in Fachpublikationen einerseits als Oral Wellness dargestellt [31], zur gleichen Zeit aber ebenso als medizinisch notwendiger Behandlungsstandard [2]. Aktuell liefert die Eingabe der Suchbegriffe „wellness professionelle zahnreinigung“ bei der Internetsuchmaschine Google mehr als 40.000 Ergebnisse und ein juristischer Aufsatz in dem einschlägigen Fachblatt „Medizinrecht“ nennt die professionelle Zahnreinigung in einem Atemzug mit Bleaching und Zahnschmuck [21]. Andere Stimmen halten hingegen am kurativen Charakter der PZR in der Zahnerhaltung – mithin ihrer zahnmedizinischen Notwendigkeit – fest [45]. Die unterschiedlichen Auffassungen können zu einem Streit um die medizinische Notwendigkeit führen, wenn Krankenversicherer die Erstattung von Behandlungskosten mit dem Hinweis auf die fehlende medizinische Notwendigkeit verweigern [42]. Auch die medizinische Notwendigkeit der zahnärztlichen Individualprophylaxe ist wiederholt bestritten worden [36]. Tatsächlich gilt die medizinische Notwendigkeit als Leistungsvoraussetzung sowohl der privaten wie der gesetzlichen Krankenversicherung [37, 41,43]. Der Einwand der fehlenden Notwendigkeit hat zweierlei zur Folge: Zum einen zahlen die Erstattungsstellen bis auf Weiteres nicht, zum anderen schieben sie den „Schwarzen Peter“ dem Arzt zu [15]. So manche Einlassung der Versicherer lässt den Behandler als Schädiger dastehen [16]. Der so in die Defensivposition gedrängte Mediziner muss sich zumindest erklären, um das Vertrauen des Patienten nicht zu verlieren, und gerät in den Strudel einer Auseinandersetzung mit Dritten, was ihn viel Zeit und Nerven kosten kann.

Auch das Gebührenrecht knüpft den zahnärztlichen Honoraranspruch grundsätzlich an das Vorliegen einer zahnmedizinischen Notwendigkeit. Demgegenüber stellen zahnmedizinisch nicht notwendige Leistungen, auch Wunschbehandlungen oder Verlangensleistungen genannt, einen von der Regel ausnehmenden Tatbestand dar, indem die Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) (nur) diesbezüglich das ausdrückliche „Verlangen des Zahlungspflichtigen“ zur Bedingung macht. Mit ihrer Novellierung erhöht die GOZ die Hürden für die Abrechnung der Behandlungen, die über eine zahnmedizinisch notwendige zahnärztliche Versorgung hinausgehen. Ab dem Jahr 2012 müssen diese Verrichtungen zusätzlich zum Beste hen des Verlangens in einem Heil- und Kostenplan ausgewiesen und schriftlich vereinbart werden. Dieser bürokratische Mehraufwand stört den Behandlungsfluss.

Eingriffe ohne legitimierende Indikation können juristische Verwicklungen im Bereich des Zivil-, Straf- und öffentlichen Rechts nach sich ziehen. Andererseits ist auch das Unterlassen notwendiger zahnärztlicher Maßnahmen zum Schaden des Patienten justiziabel [2, 25, 28]. Außerdem können Wunschbehandlungen zu unerwarteten steuerlichen Belastungen führen [26].

Aus alledem wird ersichtlich, dass die klärungsbedürftige Frage der (zahn-) medizinischen Erforderlichkeit unmittelbar und in vielerlei Hinsicht in die Abläufe der zahnärztlichen Praxis hineingreift.

Medizinische Notwendigkeit setzt Erkrankung voraus

Die (zahn-)medizinische Notwendigkeit hat Eingang in folgende Rechtsnormen gefunden: Gebührenordnung für Ärzte, Gebührenordnung für Zahnärzte, Versicherungsvertragsgesetz, Sozialgesetzbuch (Fünftes, Siebentes und Neuntes Buch). Die darin verwendeten Ausdrücke „notwendig“ und „erforderlich“ sind gleichbedeutend [1]. Wo aber beginnt und endet das Erforderliche in der Medizin?

Die Abgrenzung zwischen medizinisch notwendiger Heilbehandlung und Vorbeugung über die angewandte Methode ist nicht eindeutig: So kann beispielsweise die Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) entsprechend der IGeL-Liste der Bundesärztekammer rein vorsorglich, medizinisch nicht notwendig, zur Anwendung kommen [5] oder in der medizinisch notwendigen Nachsorge eines Karzinoms. Ähnliches gilt für die Erforderlichkeit der IP/PZR. Auch die Aufnahme der PZR in die GOZ konstituiert nicht ihre medizinische Notwendigkeit, denn ein allgemeines Leistungsverzeichnis kann keine Aussage darüber treffen, ob der Anwendung einer Methode im konkreten Einzelfall der Rang des medizinisch Notwendigen zukommt oder nicht.

In der Literatur sind Behandlungen als notwendig definiert, wenn sie nach Art und Zweckerzielung zwingend, unumgänglich, unverzichtbar sind. Diese in sich kreisende Erklärung ist ebenso selbstverständlich wie erkenntnisarm. Erhellend ist erst die Verknüpfung zwischen Erkrankung und geeigneter Behandlung, wie sie aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) bekannt ist: „Eine Heilbehandlungsmaßnahme ist ... medizinisch notwendig, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen im Zeitpunkt der Behandlung vertretbar war, sie als medizinisch notwendig anzusehen. Das ist im Allgemeinen dann der Fall, wenn eine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode zur Verfügung steht, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen oder zu lindern.“ [7] Die Einbeziehung der Eignung von Heilmaßnahmen bezüglich einer Krankheit in die BGH-Definition eint Zweck und Mittel, wie es auch der medizinische Begriff der Indikation (Heilanzeige) tut. Zwischenfazit: Die medizinische Notwendigkeit folgt der Eignung der Heilmaßnahme, das krankheitsbedingte Behandlungsziel zu erreichen.

So wird die medizinische Notwendigkeit einer Heilmaßnahme dadurch praktisch greifbar, dass der prognostizierte Heilerfolg von dieser Anwendung abhängig ist. Dass die Therapie dem Stand der Heilkunst entspricht und die im Verkehr erforderliche Sorgfalt befolgt wird, wird allgemein vorausgesetzt. „Medizinisch notwendig kann eine Behandlung aber auch dann sein, wenn ihr Erfolg nicht sicher vorhersehbar ist.“ [8] Ungeeignete Maßnahmen hingegen, die keinen Erfolg erwarten lassen, sind naturgemäß nicht notwendig. Das wirft die Frage auf, welcher Erfolgswahrscheinlichkeit einer Behandlung es mindestens bedarf, um deren medizinische Notwendigkeit begründen zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sogenannten Nikolausbeschluss als Mindestchance einer Therapie zu Lasten der GKV im Extremfall „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf“ konkretisiert [11].

Parallel stellt sich die Frage nach dem Mindestmaß von Gesundheitsstörungen, um die Behandlungsbedürftigkeit zu begründen. Das berührt nicht weniger als die Abgrenzung zwischen Gesundheit und Krankheit. Wohl jeder Mensch hat eine Vorstellung von Gesundheit, um die auch alle ärztlichen Bemühungen kreisen. Sie von Krankheit abzugrenzen ist einerseits nicht immer eindeutig, andererseits zur fachlichen, ethischen und rechtlichen Handlungssicherheit notwendig [19,20,29,32,33,39]. Allgemein bekannt ist die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO): „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens ...“ Die hierin verankerte Vorstellung mutet mehr utopisch an, als dass unserer Berufsstand in der Lage wäre, sie zu verwirklichen. Bedeutsamer ist die Legaldefinition des gegenüber der Gesundheit gegensätzlichen Körperzustandes, der Krankheit. Das Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde bestimmt, dass als Krankheit in unserem Fachgebiet „jede von der Norm abweichende Erscheinung ... anzusehen“ ist. Im Umkehrschluss ist Gesundheit die Entsprechung zur Norm. Als Norm wird üblicherweise die durchschnittliche Beschaffenheit verstanden. Bei häufig vorkommenden Krankheiten, wie Karies und Parodontitis, wäre die Erhebung des Ist- Zustandes zur Norm jedoch kontraproduktiv, denn damit würde auch Krankes zur Regel erklärt. Hier muss die Medizin zweckmäßigerweise eine idealisierte Vorstellung von Gesundheit entwickeln, wie sie als „Leitbild des gesunden Menschen“ in die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eingeflossen ist [9]. Eine derartige Abgrenzung zwischen Gesundheit und Krankheit ist indes keine Frage der Rechtsauslegung, sondern nach wie vor der Festlegung nach medizinischer Erkenntnis. Ein mustergültiges Beispiel hierfür ist der parodontale Screening-Index (PSI), der die befundorientierte Standardschwelle für die medizinisch notwendige Nutzung der IP/PZR in der Parodontalbehandlung konkretisiert. Die entsprechend einem krankhaften PSI-Befundes vorgenommene IP/PZR läuft also nicht Gefahr, als kosmetische Wunschbehandlung fehlgedeutet zu werden.

Von der Vorbeugung zur Heilbehandlung

Vorbeugen ist besser als heilen, sagt der Volksmund und unterscheidet hierbei intuitiv zwischen Prävention und Krankenbehandlung. Die Abgrenzung ist deutlich: Die Krankenbehandlung erfolgt wegen einer Erkrankung, wohingegen Vorsorge Gesundheit erhalten soll, diese also voraussetzt. Im letztgenannten Fall, wo es nichts zu heilen gibt, kann auch nicht von Heilmaßnahmen gesprochen werden und erst recht nicht von deren Notwendigkeit. Somit ist die Krankheitsvorbeugung bei Gesunden, die Primärprophylaxe, medizinisch nicht notwendig.

Darüber darf allerdings nicht übersehen werden, dass die zahnärztliche Wirklichkeit überwiegend eine andere ist, als sich Gesunden zu widmen. Trotz rückläufiger Karies bei Kindern leiden Angehörige der anderen Altersgruppen zu mehr als 95 % unter Karies oder Parodontitis [35]. Kommen IP und PZR bei Erkrankten zur Anwendung, liegt keine (Primär-)Prophylaxe mehr vor, sondern eine medizinisch notwendige Heilbehandlung. So setzt die medizinische Notwendigkeit dort ein, wo die Krankheit beginnt und die Primärprophylaxe endet.

Recall ist zwingend

Die medizinische Notwendigkeit geeigneter ursachengerechter Behandlungen gegen Karies und Parodontitis beschränkt sich nicht auf die Akutphase der Erkrankung, sondern erstreckt sich darüber hinaus auch auf Maßnahmen zur Vermeidung von Komplikationen, zur Aufrechterhaltung des Behandlungserfolgs und zur Vorbeugung gegen einen Rückfall [2,25,28]. Die medizinische Notwendigkeit einer solchen Nachsorge – in der Regel als systematisches lebensbegleitendes Recall angezeigt – würde erst bei Nachlassen eines spezifischen Rückfall- oder Komplikationsrisikos enden.

Gut, besser, ursachengerecht

Unter dem Gesichtspunkt, dass die medizinische Notwendigkeit von Heilmaßnahmen auf deren Eignung beruht [7], soll hier kurz die therapeutische Wirksamkeit ursachengerechter Behandlungskonzepte herausgestellt werden: Die traditionelle Zahnheilkunde strebt(e) nach dem perfekten Ersatz unheilbarer oder verloren gegangener oraler Strukturen. Die Behandlungserfolge dieses „Reparaturbetriebs“ [22] haben sich als begrenzt erwiesen. Seine technomorphen Überlegungen können das biologische Problem kariöser und parodontitischer Infektionen nicht lösen und Stimmen aus der Wissenschaft stellten fest: „Eine Zahnerhaltung, die sich ausschließlich um die Reparatur von Zahnschäden bemüht, ist zum Scheitern verurteilt.“ [22] Demgegenüber verfolgen IP und PZR einen ursachengerechten Ansatz. Dieses Konzept ist in seinem Vermögen, Zähne gesund zu erhalten, der althergebrachten symptomverfangenen Zahnheilkunde „weit überlegen“ [3,4]. Die ursachengerechte Behandlung von Karies und Parodontitis geht einher mit deren Früherkennung und Frühbehandlung, woraus als weitere Vorteile die geringe Invasivität und die Nebenwirkungsarmut des Vorgehens resultieren.

Sonderstellung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

Das Gebot, die Zahnheilkunde ursachengerecht und präventionsorientiert auszugestalten, ist sogar gesetzlich verankert – in SGB V § 92. Daneben umfasst die Definition der zahnärztlichen Tätigkeit im SGB V § 28 ausdrücklich auch die Verhütung von Zahn-, Mund und Kieferkrankheiten. Der Vorteile wegen wäre eine flächendeckende Umsetzung der ursachengerechten Behandlungsweise im Sachleistungssystem der GKV zu erwarten. Aber: Bei begrenztem Leistungsportfolio und eingeschränktem Nutzerkreis entfallen nur 4 % der GKV-Ausgaben für die zahnärztliche Versorgung auf die Individualprophylaxe [24].

Notwendiges sachgerecht benennen

Die Abrechnung zahnärztlicher Leistungen ist in Rechtsnormen geregelt. Daher können Honorarforderungen gerichtlich überprüft werden. Juristen sind eine eindeutige Zuordnung zwischen Begriff und Inhalt gewohnt und vor diesem Hintergrund sollte der ärztliche Sprachgebrauch treffend sein. Um Interpretationsspielräume erst gar nicht aufkommen zu lassen – auch im Hinblick auf die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen für ursachengerechte Zahnbehandlungen bei Versicherungen und Beihilfestellen – sollte sich die Verwendung des Begriffes Prophylaxe seinem Wortsinn entsprechend auf Maßnahmen bei Gesunden beschränken. Als geeignetere Bezeichnungen ursachengerechter Behandlungen und Nachsorge der Zahnbetterkrankungen und Karies jenseits einer Primärprophylaxe bieten sich an: ursachengerechte Behandlung, Kausaltherapie, Erhaltungstherapie, Paro- Stopp- bzw. Karies-Stopp-Therapie oder Nachsorge (von Karies bzw. Parodontitis). Im Falle eines Streites um die medizinische Notwendigkeit von Zahnprophylaxe sollte hinterfragt werden, ob die in Frage stehende „prophylaktische“ Anwendung im konkreten Fall bei einem Gesunden oder einem (an Karies bzw. Parodontitis) Erkrankten erfolgte.

Notwendigkeit von Untersuchungen

Die Frage der Erforderlichkeit der Maßnahmen zur Krankheitserkennung ist deswegen besonders spannend, weil zum Zeitpunkt einer solchen Untersuchung das Bestehen einer Erkrankung und ihr Krankheitswert noch offen sind. Die als Grundlage der medizinischen Notwendigkeit vom BGH vorausgesetzten „objektiven medizinischen Befunde“ können also zum Zeitpunkt der Vornahme einer Eingangsuntersuchung noch gar nicht vorliegen. Andererseits sollen Untersuchungen bekanntlich gerade bei Unklarheit zum Erkenntnisgewinn führen, welcher Voraussetzung für das Stellen der Prognose und behandlungsstrategische Überlegungen ist. Hieraus wird ersichtlich, dass die Notwendigkeit von Untersuchungen anderen Regeln folgen muss als die von Heileingriffen und einer gesonderten Betrachtung bedarf.

Insbesondere präventiv ausgerichtete Behandlungskonzepte sind auf eine feinfühlige Diagnostik zur Risikobewertung und Früherkennung von Krankheiten angewiesen. Doch nicht jede Maßnahme zur Krankheitserkennung gilt als notwendig. So hat etwa das OLG Köln die Notwendigkeit eines medizinischen Tests zur Aufdeckung einer spezifischen Infektion verneint, obwohl seine Nichtdurchführung zu schweren gesundheitlichen Schäden führte, da nicht frühzeitig eingegriffen werden konnte [34]. Der Streitwert in Höhe von 600.000 Euro lässt das Konfliktpotenzial erkennen, das mit der Frage nach der Notwendigkeit von Untersuchungen verbunden ist. Mit den zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Vernetzung oraler mit systemischen Erkrankungen [15] steigen auch die zahnärztliche Verantwortung und die Haftungsrisiken. Das „Erkennen“ und die „Feststellung“ von Krankheiten sind gesetzlich verankert in SGB V § 27 (1), Zahnheilkundegesetz § 1 (3). Eine nähere Bestimmung, unter welchen Umständen das notwendig ist, findet sich in den Rechtsnormen nicht und bedarf der Auslegung.

Die medizinische Notwendigkeit einer Untersuchung ist meines Erachtens immer dann gegeben, wenn diese einen entscheidungsrelevanten Erkenntnisgewinn verspricht. Die Entscheidungsrelevanz von Untersuchungen fließt ein in die gewohnte ärztliche Strategie, bei der Untersuchungen aufeinander aufbauen. Daher wäre es nicht sachgerecht, die Notwendigkeit diagnostischer Maßnahmen auf das im Gesetz verankerte bloße Erkennen bzw. Feststellen von Krankheiten zu beschränken und weiterführende Untersuchungen davon auszunehmen. Auch bedarf es nicht immer einer Untersuchung, um eine Erkrankung zu erkennen. So kann bereits eine krankheitstypische Vorgeschichte prima vista zu einer Diagnose führen. Diese lässt eine Untersuchung zur Erkennung der Erkrankung entbehrlich werden, nicht jedoch zwangsläufig die ggf. für die weitere Aufklärung notwendige aufbauende Diagnostik, denn erst aus dieser ergibt sich typischerweise die genaue Ausgestaltung der Behandlung, z. B. die Intensität von Heilmaßnahmen wie die Dosierung von Medikamenten oder die Frequenz der PZR. Zu beachten ist, dass kein Untersuchungsverfahren unfehlbar diagnostiziert. Gesunde können (vermeintlich) krankhafte Anzeichen aufweisen, Kranke hingegen gesund erscheinen. Die Konsequenz, um zu einer zutreffenderen Beurteilung zu gelangen, ist die sinnvolle Kombination mehrerer Untersuchungen. Sinnvoll bedeutet in diesem Zusammenhang, dass nicht alle in Frage kommenden Diagnosemethoden additiv genutzt werden, denn das erhöht die Gefahr falsch positiver Ergebnisse [30].

Medizinisch notwendig hingegen ist es, ein unklares Krankheitsbild von verschiedenen Seiten „abzuklopfen“, und zwar so weit, bis eine tragfähige Auffassung von der Krankheit entsteht, die nach den anerkannten Regeln der Heilkunst Grundlage einer gebotenen ärztlichen Entscheidung wird. Ein solches diagnostisches Konzept wird dem Umstand gerecht, dass bei einer Erkrankung nicht immer alle kennzeichnenden Merkmale gleichzeitig imponieren – man denke nur an die Hidden Caries. In diesem Sinne nutzt beispielsweise das Cariogram zur Abklärung des individuellen Kariesrisikos eine Kombination aus unterschiedlichen Parametern – von der kariesbezogenen Vorgeschichte über klinische Aspekte bis zu labormedizinischen Daten –, um die diagnostische Trefferquote gegenüber den Einzelbefunden zu verbessern, wohingegen die verschiedenen Einzelbefunde für sich allein keine brauchbare Verlässlichkeit erreichen [18]. Das gleiche Prinzip der Nutzung einer Befundkombination ist zur treffenden Erfassung der Parodontitis allgemein anerkannt und gebräuchlich. Die medizinische Notwendigkeit hängt auch von dem Risikoprofil des Patienten ab [12] und beginnt bereits bei Krankheitsrisiken unter 50 %. Hierbei kommt zum Tragen, dass Zahnärzte aus Sach- und Rechtsgründen im Zweifel zu der größeren Vorsicht verpflichtet sind [6]. Ein prozentualer Schwellenwert des Krankheitsrisikos, der die Notwendigkeit diagnostischer Maßnahmen auslöst, ist nicht festgelegt, sondern die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Krankheitserkennung wird durch konkrete Anhaltspunkte erweckt, wie der Entscheidung des OLG Köln [34] entnommen werden kann. Anhaltspunkte, die eine Untersuchung notwendig werden lassen, können sein: symptomatische Vorgeschichte, auffälliger Erstbefund, spezifische Risiken wie eine besondere Exposition gegen Schadstoffe, erbliche oder konstitutionelle Veranlagung. Daneben zeigt sich das deutliche Einhergehen von Krankheiten mit soziodemografischen und sozioökonomischen Parametern [30,38]. Diesen Kenngrößen kommt durchaus ein messbares Krankheitsrisiko zu, weswegen auch sie Untersuchungen zum Erkennen einer Erkrankung begründen können. Die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Krankheitserkennung setzt also eher ein als die anderer Heilmaßnahmen. Während ansonsten die medizinische Notwendigkeit „objektive medizinische Befunde“ voraussetzt [7], gründet sie bei Untersuchungen zur Krankheitserkennung wie dargelegt bereits auf einem Anfangsverdacht aus gegebenem Anlass.

Fissurenversiegelung: (k)eine Prophylaxe?

Seit ihrer Aufnahme von in den Leistungskatalog der GKV haben Fissurenversiegelungen bei gesetzlich Versicherten in Deutschland zunehmend eine hohe Anwendungsfrequenz erfahren. Die Zahl der Eingriffe reicht rechnerisch für eine vollständige Versorgung des leistungsberechtigten Personenkreises aus [4]. In dem Leistungsverzeichnis der GKV ist die Fissurenversiegelung mit dem Kürzel IP5 den individualprophylaktischen Leistungen zugeordnet und wohl kaum ein Zahnarzt würde an der sachlichen Richtigkeit dessen zweifeln. Jedoch überrascht der Blick in die GOZ, die Fissurenversiegelungen an anderer Stelle als unter den prophylaktischen Leistungen führt. Erhellend mag ein Blick in die wissenschaftliche Leitlinie der DGZMK zu Fissurenversiegelungen [27] sein. Danach erfolgt die Indikationsstellung für Versiegelungen „auf der Grundlage einer exakten Befunderhebung sowie Karies- und Kariesrisiko-Diagnostik“, wohingegen „bei karies(risiko)freien Patienten ... auf die Fissuren- und Grübchenversiegelung durchaus verzichtet werden [kann]“. Die Ausrichtung der Indikation an objektiven Befunden entspricht der dahingehenden Anforderungen des BGH [7] zur medizinischen Notwendigkeit. Sofern Fissurenversiegelungen also nicht „nach dem Gießkannenprinzip“, sondern leitlinienkonform aus befundbezogener Indikation heraus vorgenommen werden, ist ihre Notwendigkeit gegeben und der Bereich einer (Primär-)Prophylaxe wird gleichzeitig verlassen.

Fazit

Zahnmedizinische Individualprophylaxe und professionelle Zahnreinigung bei Gesunden sind nicht medizinisch notwendig. Erfolgen sie als ursachengerechte Behandlung eines kariösen oder parodontitischen Befalls, handelt es sich um medizinisch notwendige Krankenbehandlungen. Dabei erstreckt sich die medizinische Erforderlichkeit über die Akutbehandlung hinaus auch auf Maßnahmen zur Vermeidung von Komplikationen, eine Aufrechterhaltung des Behandlungserfolgs und die Vorbeugung gegen einen Rückfall. Präventive Behandlungskonzepte sind auf eine feinfühlige Diagnostik und Risikobewertung zur Vorsorge und Früherkennung von Krankheiten angewiesen. Nicht jede Untersuchung ist notwendig und die Bedingungen für die medizinische Notwendigkeit diagnostischer Maßnahmen werden umrissen. Die Schwelle der Notwendigkeit von Untersuchungen zur Krankheitserkennung ist eine andere als die der übrigen Heilmaßnahmen. Fissurenversiegelungen aus befundbezogener Indikation heraus sind nicht der Primärprophylaxe zuzuordnen, sondern medizinisch notwendige Verrichtungen.

Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Dr. Richard Krause

Bilder soweit nicht anders deklariert: Dr. Richard Krause


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