Allgemeine Zahnheilkunde


Alterszahnheilkunde – Barrierefreiheit beginnt im Kopf


Treppen stellen für viele ältere bzw. pflegebedürftige Menschen eine kaum überwindbare Hürde dar. Diese Patientengruppen haben spezielle Bedürfnisse, die es im zahnärztlichen Alltag zu berücksichtigen gilt – zumal die Versorgung betagter Patienten künftig wohl einen größeren Anteil am Behandlungsvolumen ausmachen wird. In diesem Artikel werden die Aktivitäten des Arbeitskreises Alterszahnheilkunde und Behindertenbehandlung der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg vorgestellt, um die eigene Praxis auf die speziellen Herausforderungen vorbereiten zu können.

Wir leben in einer Gesellschaft des längeren Lebens. Die Menschen werden immer älter und die Geburtenraten sind niedrig. Demografen nennen dies eine doppelte Altersdynamisierung. Die Alterszahnheilkunde ist bereits in vielen Praxen ein relevantes Thema. Die Kompression der Morbidität – also die Erhaltung der Gesundheit bis zum Tod – bleibt dabei vorerst ein Wunschtraum. Bezogen auf die körperlichen und geistigen gesundheitlichen Einschränkungen ist die Generation 65+ äußerst inhomogen. Für die Zahnärzteschaft ergibt sich daraus eine Vielzahl an neuen Herausforderungen. Das Wort „Barrierefreiheit“ ist in aller Munde. Doch was beinhaltet Barrierefreiheit konkret?

Ein Blick auf die Versorgungslandschaft zeigt: Es gibt bereits heute Kolleginnen und Kollegen, die mit viel Engagement und großer Kreativität für ihre eigene Praxis ein Versorgungskonzept entwickelt haben. Der eine Königsweg existiert nicht, sondern regionale Strukturen. Die Bedürfnisse der Patienten wie auch die Praxisvoraussetzungen charakterisieren die höchst individuellen Lösungsansätze. Dennoch macht es Sinn, grundsätzliche Überlegungen anzustellen, um darauf ein eigenes Konzept aufzubauen.

Barrierefreie Praxis

Die gesundheitlichen Probleme betagter Menschen sind vielfältig. Die eingeschränkte Mobilität wird vom Praxisteam am ehesten aufgrund des Einsatzes von Gehhilfen, wie z. B. Rollator oder Rollstuhl, wahrgenommen. Aber auch Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens und der taktilen Sensibilität müssen im Praxisalltag berücksichtigt werden.

Checkliste für eine barrierefreie Praxis

  • behindertengerechte Parkmöglichkeiten
  • Zugang zu den Praxisräumlichkeiten ohne Treppen bzw. Schwellen (alternativ: rollstuhlgerechter Aufzug oder Rampe)
  • automatische Türöffner für einen problemlosen Zugang auch bei Einsatz von Gehhilfen
  • in der Praxis keine Treppen oder Schwellen
  • rutschfeste Böden
  • Handläufe in den Gangbereichen
  • gute Ausleuchtung aller Bewegungsflächen für Patienten in der Praxis
  • Beschriftungen mit großen Buchstaben und starken Kontrasten
  • Rezeptionsbereich teilweise auf Tischniveau für Kommunikation mit Menschen im Rollstuhl (Abb. 1)
  • Toiletten: rollstuhlgerechter Zugang, WC-Griff, Notknopf für Toilette
  • Wartezimmer und Behandlungszimmer: Stühle mit Armlehnen für einen sicheren Sitz auch für Begleitpersonen (Eheleute)
  • Behandlungsraum mit separatem Behandlungscart zur möglichen Behandlung im Rollstuhl (Abb. 2)
  • Behandlungseinheit mit Einstiegsmöglichkeit in „Sitzposition“
  • Lesehilfen, Lagerungskissen, Transferhilfen (Abb. 3)
  • Anamnesebögen und Aufklärungsbögen mit großer Schrift und starken Kontrasten

  • Abb. 1: Abgesenkter Tisch im Rezeptionsbereich (Bild mit freundlicher Genehmigung der Praxis Dr. M. Steybe, Friedrichshafen).
  • Abb. 2: Behandlung im Rollstuhl.
  • Abb. 1: Abgesenkter Tisch im Rezeptionsbereich (Bild mit freundlicher Genehmigung der Praxis Dr. M. Steybe, Friedrichshafen).
  • Abb. 2: Behandlung im Rollstuhl.

  • Abb. 3: Curved Glideboard als Transferhilfe.
  • Abb. 3: Curved Glideboard als Transferhilfe.

Auf der Homepage der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg* werden unter „Barrierefreiheit“ verschiedene Informationen zur Umsetzung der barrierefreien Praxis übersichtlich aufgeführt. Hier finden sich auch Hinweise für Alltagshilfen wie Haltegriffe, Halterungen, Kopf- und Nackenkissen, Lagerungskissen, Lesehilfen, Liftsysteme, Rampen, Rollstühle und Transferhilfen. Die Broschüre des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg beschreibt im Detail Bemaßungen für barrierefreies Bauen und führt kompetente Ansprechpartner zur Unterstützung vor Ort auf.

Zugehende Betreuung

Ein anderer wichtiger Aspekt in der Behandlung betagter und pflegebedürftiger Menschen ist die zugehende Betreuung: der Hausbesuch. Grundsätzlich muss man wissen, dass sowohl die Hygiene als auch die juristische Verantwortung beim Hausbesuch nicht nachgeordnet beurteilt werden. Das mobile Behandlungskonzept muss daher auf die individuellen Möglichkeiten und Voraussetzungen vor Ort abgestimmt sein. Steht beispielsweise in einer Pflegeeinrichtung ein komplett ausgestatteter Behandlungsraum mit guter Absaugung und Sterilisation sowie der Möglichkeit zur Anfertigung von Röntgenbildern zur Verfügung, so lassen zumindest die technischen Voraussetzungen alle praxisüblichen Behandlungsmaßnahmen zu. Besteht die Ausrüstung in einer mobilen Behandlungseinheit ohne Röntgen und ohne adäquate Absaugung, so sind gerade bei Hochrisikopatienten mit Aspirationsgefahr die Behandlungsmöglichkeiten in der Mundhöhle mit einem deutlich erhöhten Risiko verbunden. Bei entsprechendem Risiko sollte daher immer in Kooperation mit dem Hausarzt ein Transport in die Praxis bzw. in ein ambulantes OP-Zentrum oder – wenn nötig – direkt eine stationäre Aufnahme in ein Krankenhaus organisiert werden.

Auf der Homepage der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg ist unter „Barrierefreiheit“ eine Materialcheckliste für Hausbesuche als Download eingestellt. Diese Checkliste orientiert sich an den typischen Behandlungssituationen, die im Rahmen von Hausbesuchen notwendig werden können. Darüber hinaus findet sich hier eine Zusammenstellung mobiler Behandlungseinheiten sowie ein Internetlink als mögliche Bezugsadresse. Es sei an dieser Stelle aber nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Anschaffung einer mobilen Behandlungseinheit vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen rechtlichen Gegebenheiten besonders sorgfältig abgewogen werden sollte. Die Berufshaftpflichtversicherung sollte über grundlegende Veränderungen der zahnärztlichen Tätigkeiten informiert werden.

Checkliste für Hausbesuche:

  • Administration 
    – Aufklärungsbögen, mobiles Lesegerät, Rezepte
    – patientenbezogen: Karteikarte, Röntgenbilder
  • Grundbesteck/Hygiene
    – Taschenlampe, Fotoapparat, Schutzbrille
    – Desinfektion für Hände, Flächen, Mund
    – Mundschutz und Handschuhe (auch latexfrei)
    – Spiegel, Pinzette, Sonde
    – Tupfer klein/groß und Klemme
    – Spritzen, CHX, H2O2, Dontisolon, Duraphat
    – Zahnseide, Interdentalbürsten, Prothesenbürste
    – Bürstenbiopsie
  • Kons 01/Zst/Kür: einfache Füllungen/SK
    – Kältespray, PA-Sonde, Exkavator, Scaler, Küretten, Stopfer, Cavit
    – ggf. rotierend: Diamanten, Rosenbohrer, Polierer
  • Zahnersatz: Instandsetzung/Reparatur
    – Zangen
    – Materialien für Abformungen und Unterfütterungen
    – Zemente
    – ggf. rotierend: Fräsen, Diamanten, Polierer
  • Chirurgie
    – OP-Tray
    – Hämostyptika
    – Nahtmaterial (auch resorbierbar)
    – Streifen, Antibiotika, Luniatschek
    – ggf. Tranexamsäure
  • Container für Aufbewahrung benutzter Instrumente
  • ggf. mobiler Motor, Handstück/Winkelstück

Transportscheine dürfen nach aktueller Gesetzeslage (SGB V, § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 – Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses [gBA] über die Verordnung von Krankenfahrten) von Zahnärzten nicht ausgestellt werden, wenn der Transport aufgrund allgemeiner körperlicher oder geistiger Einschränkungen notwendig ist. Zwar erscheint es im ersten Moment sehr umständlich, dafür den Hausarzt zu bemühen. Allerdings können Zahnärzte die derzeit geforderte ICD-10-Codierung wie auch die Auswahl des benötigten Transportmittels nicht korrekt ausführen. Gerade vor dem Hintergrund, dass Transporte eher bei invasiven Therapiemaßnahmen notwendig werden, erscheint die explizite Kooperation mit dem Hausarzt sinnvoll. Schließlich besteht ein erheblicher Unterschied hinsichtlich des Risikos zwischen der Extraktion eines Zahnes mit lokaler Betäubung in der Einrichtung und einer Totalsanierung mit Entfernung vieler Restzähne in Vollnarkose. Um Missverständnisse zu vermeiden, empfiehlt es sich, persönlich mit dem Hausarzt zu sprechen und auf die Gesetzeslage hinzuweisen, denn oft ist den Hausärzten unbekannt, dass Zahnärzten die Ausstellung von Transportscheinen nicht gestattet ist. Nicht selten organisieren Pflegeeinrichtungen bzw. die Angehörigen den Transport auch selbstständig.

Demenz: Zugang und Umgang

Neben den Fragen der Praxisgestaltung bzw. dem Konzept der praktischen Umsetzung von Therapiemaßnahmen im Hausbesuch verlangen die persönlichen Eigenheiten betagter Menschen besondere Beachtung. Demenzielle Erkrankungen stehen dabei im Vordergrund. Das Praxisteam ist in der Regel mit den Grundsätzen der Validation – Zugang zu und Umgang mit demenziell erkrankten Menschen – kaum vertraut. Dabei lassen sich diese speziellen kommunikativen Techniken ganz hervorragend auch bei allen anderen Patientengruppen anwenden. Um unnötigen Konflikten von vornherein aus dem Weg zu gehen, sollte unbedingt auf Warum-Fragen verzichtet werden. Denn diese können unter Umständen Konflikte auslösen, da der betroffene demenziell erkrankte Patient keine sinnvolle Antwort geben kann. Auch in der Praxis geläufige Sätze, wie „Nehmen Sie bitte Platz“ oder „Spülen Sie bitte aus“, können Irritationen auslösen, weil sie eine gute persönliche und situative Orientierung voraussetzen.

Auf der Homepage der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg findet sich unter „Barrierefreiheit“ ein kurzer Überblick über die verschiedenen Demenzformen und es werden grundsätzliche Aspekte der Kommunikation mit demenziell erkrankten Menschen dargestellt.

Checkliste für den Zugang zu und Umgang mit demenziell erkrankten Menschen

  • verbal
    – kurze, deutliche Sätze
    – warme, tiefere Stimmlage
    – Namen nennen
    – viel Lob und positive Rückmeldung
  • non-verbal
    – nicht zwei Handlungen auf einmal
    – Blickkontakt, Ansprache auf Augenhöhe
    – Körperkontakt: Hand auflegen
  • Umgebung
    – blendfreies Licht, keine Hintergrundgeräusche
    – Zahl der anwesenden Personen reduzieren
    – Lagerung und Raumtemperatur (nicht zu kühl)
    – Handschmeichler
  • Allgemeines
    – Erinnerung an Termine
    – kurze Wartezeiten, kurze Behandlungszeiten
    – in der Praxis begleiten
    – engerer Recall
    – auf Mangelernährung achten

  • Abb. 4: Organigramm

  • Abb. 4: Organigramm
Neben dem persönlichen Umgang sind auch die Fragen der Geschäftsfähigkeit und der Einwilligungsfähigkeit von großer Bedeutung. Aus diesem Grund hat die Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg eine Abhandlung der wichtigsten juristischen Aspekte zusammengestellt. Hier werden auf wenigen Seiten Begriffe wie „gesetzliche Betreuung“ und „Generalvollmacht“ für juristische Laien verständlich erläutert. Ein Organigramm am Schluss der Abhandlung erlaubt eine schnelle Orientierung (Abb. 4). Auf der Homepage der Landeszahnärztekammer finden sich zudem Formulare (Aufnahmebogen, Überleitungsbogen, Abrechnung) für den Praxisalltag sowie Listen zu geriatrischen Erkrankungen und zahnmedizinisch relevanten Informationen für den sicheren Umgang mit Fragen der Polypharmazie in der Zahnarztpraxis.
  • Abb. 5 a und b: Kursteilnehmer bei der Arbeit.
  • Abb. 6: Demonstration im Umgang mit Zahnersatz im Beisein der Pflegekraft.
  • Abb. 5 a und b: Kursteilnehmer bei der Arbeit.
  • Abb. 6: Demonstration im Umgang mit Zahnersatz im Beisein der Pflegekraft.

Für eine erfolgreiche Implementierung der Alterszahnheilkunde in die eigene Praxis gibt es neben den Angeboten der Akademie Praxis und Wissenschaft (APW) auch in Baden-Württemberg praxisorientierte Fortbildungsangebote (Abb. 5 a u. b). So bietet das Zahnmedizinische Fortbildungszentrum in Stuttgart für Zahnärzte zweimal im Jahr das „Curriculum Geriatrische Zahnheilkunde“ und für zahnmedizinische Mitarbeiterinnen den Kurs „Der besondere Patient“ an. Die Akademie für Zahnärztliche Fortbildung in Karlsruhe hat für Zahnärzte und Mitarbeiterinnen den CPD-Teamkurs (Continuing Professional Development) „Alte Menschen gut versorgen – Alterszahnheilkunde in der Praxis“ im Angebot. Ab dem Jahr 2013 ist auch in Karlsruhe erstmals ein Kurs allein für Mitarbeiterinnen „Betreuung des alten Patienten – Mundhygiene beim alten Patienten“ geplant. Im Rahmen dieser Fortbildungen werden neben den hier beschriebenen Aspekten häufige Fragen im Pflegealltag besprochen sowie Tipps und Tricks zur Anleitung der Zahn-, Mund- und Zahnersatzpflege wie auch zur Behandlung schwerstpflegebedürftiger Menschen vermittelt (Abb. 6).

* Das AKABe-Projekt wird auf der Homepage der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg näher vorgestellt (www.lzkbw.de, Rubrik: Zahnärzte – Alterszahnheilkunde und Behindertenbehandlung). Die meisten Materialien des Projektes stehen als Download zur Verfügung und sind im Umfang so strukturiert, dass eine schrittweise Einführung im Rahmen von Teamsitzungen problemlos möglich ist.
Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Dr. Elmar Ludwig

Bilder soweit nicht anders deklariert: Dr. Elmar Ludwig


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