Prothetik


Effekte einer temporär erzeugten Okklusionssperrung auf die funktionelle Wirbelsäulenstellung beim Stehen


Okklusale Störungen wie ein überhöhter okklusaler Kontakt stellen eine mechanische Irritation für die harmonische Okklusion dar und führen zu Kompensations- bzw. Adaptationsprozessen im ganzen Körper. Fehlfunktionen des stomatognathen Systems können deshalb mitverantwortlich für Schmerzen und funktionelle Einschränkungen im Stütz- und Bewegungssystem sein. Aus diesem Grund sind Studien wie die nachfolgend vorgestellte für die Zahnmedizin interessant: Hier wurde der Einfluss einer Okklusionssperrung auf die Wirbelsäulenstellung in der Statik des Körpers untersucht, wenn Silikonplättchen zwischen den Prämolaren oder den Frontzähnen positioniert werden. Die Ergebnisse bestätigen den funktionellen Zusammenhang zwischen manipulierter Okklusionsposition und Oberkörperhaltung, wie die folgenden Ausführungen erläutern.

Okklusion und Körperhaltung beeinflussen sich gegenseitig. Bereits 1967 verknüpfte Eschler [3] die einzelnen Strukturen des craniomandibulären Systems zu einem in Form und Funktion voneinander abhängigen Funktionskreis. Als System aus Zahnrädern verbildlicht, sind diese anatomischen Strukturen zu einer Funktionskette zusammengefasst, deren Glieder ineinander greifen, miteinander interagieren und dadurch einen Funktionskreis des stomatognathen Systems mit wechselseitigen Einflüssen darstellen. Somit führt die Beeinflussung einer Struktur zu einer Veränderung aller Strukturen durch Änderung der Funktion [5]. Dass sich dieses Modell der Zahnräder auch auf den gesamten Körper übertragen lässt, zeigen Ergebnisse aktueller Studien: Okklusion und Körperhaltung beeinflussen sich gegenseitig [17,23,25,27,28].

Okklusion und Körperhaltung in Wechselbeziehung

Dabei sind konträre Wechselbeziehungen zu erkennen. Abhängig von der Wirbelsäule lassen sich Veränderungen im craniofazialen System beobachten [7,24,25,29]. Ebenso zeigen sich Einflüsse des craniofazialen Systems auf die Wirbelsäule [4,11,23]. In der Dynamik sind gegensätzliche Korrelationen zu verzeichnen. Sowohl eine von der Unterkieferposition abhängige Lokomotion als auch eine von der Lokomotion abhängige Unterkieferposition können in Studien belegt werden [6,15].

Eine Zunahme der Approximalkontaktstärke zwischen Eckzähnen und Molaren stellten Kim et al. [10] fest, sobald sich der Proband von der liegenden in eine aufrechte Ausgangslage bewegte. Ebenso registrierten Fink et al. [4] Funktionseinschränkungen der Halswirbelsäule und des Iliosakralgelenks, die durch eine manipulierte Okklusion mittels einer dünnen Zinnfolie (0,9 mm) ausgelöst wurden. Schupp et al. [23] fanden durch Simulation einer Okklusionsstörung mit 0,6 mm bzw. 0,9 mm dünner Zinnfolie anhand von manuellen Untersuchungsmethoden heraus, dass sich auf der Seite der manipulierten Okklusion die Beinlängendifferenz vergrößerte und Veränderungen im „Leg-turn-in-Test“ resultierten. Perillo et al. [19] konnten lediglich bei einem vergrößerten Überbiss Auswirkungen auf die Körperhaltung am Beispiel des Fukuda-Schritttests erkennen. Mc Lean et al. [14] verdeutlichten, dass bei willkürlichem Mundschluss in graduell veränderter Körperposition von liegend zu aufrecht keine Veränderungen im Wachsregistrat vorliegen. Dieses veränderte sich jedoch durch elektrische Stimulation der für den Mundschluss relevanten Muskeln. Es konnten nach mesial verschobene Kontaktpunkte und eine erhöhte Kraft des Zubeißens in Wachsregistraten verzeichnet werden. Miles et al. [15] wiesen keine EMG-Aktivität des M. masseter während der Lokomotion nach, bestätigten jedoch, dass abhängig von der Laufgeschwindigkeit größere und schnellere Unterkieferbewegungen zu verzeichnen sind. Die Dehnung der Kiefermuskulatur reizt die Mundschließer: Der Mundschlussreflex wird aktiviert, die Mandibula bewegt sich nach cranial. Fujimoto et al. [6] belegten Veränderungen der Gangstabilität im Laufen bei einer Mundöffnung von 5 mm sowie bei 5 mm lateral verschobener Position kombiniert mit einer Mundsperrung von 3 mm.

Studienziel

Die bisherigen Forschungsergebnisse verdeutlichen die Komplexität der Interaktionen der einzelnen Strukturen des Körpers [18,20]. Okklusale Störungen wie ein überhöhter okklusaler Kontakt stellen eine mechanische Irritation für die harmonische Okklusion dar und führen zu Kompensations- bzw. Adaptationsprozessen im ganzen Körper [5,9]. Fehlfunktionen des stomatognathen Systems können deshalb mitverantwortlich für Schmerzen und funktionelle Einschränkungen im Stütz- und Bewegungssystem sein [21,22].

Daher ist es das Ziel dieser Studie, den direkten Einfluss einer Okklusionssperrung durch Positionieren von Silikonplättchen zwischen den Prämolaren oder den Frontzähnen auf die Wirbelsäulenstellung in der Statik des Körpers zu analysieren. Die Hypothesen, die in dieser Untersuchung überprüft werden sollen, sind folgende:

  1. Eine temporäre Manipulation der Okklusion im Bereich der Prämolaren und der Frontzähne führt zu einer messbaren Abweichung der Wirbelsäulenstellung während des Stehens im Vergleich zur habituellen Okklusion.
  2. Abhängig von der Positionierung des Okklusionshindernisses zeigen sich Unterschiede in der Wirbelsäulenstellung.
  3. Die Effekte der Okklusionsstörung sind bezüglich der Wirbelsäulenstellung in jedem Wirbelsäulensegment unterschiedlich.

Material und Methoden

Probanden

An dieser Studie haben 23 gesunde Probanden (5 m/18 w) im Alter von 20–30 Jahren (Altersdurchschnitt 26 Jahre) freiwillig teilgenommen.

Einschlusskriterium für das Probandenkollektiv waren klinische Gesundheit und physische Leistungsfähigkeit. Ebenso prüfte der zu Beginn auszufüllende Funktionsfragebogen der Poliklinik für Kieferorthopädie der Goethe-Universität Frankfurt/Main (nach Kopp) die subjektive Beschwerdefreiheit und mögliche Fehlfunktionen im craniomandibulären System der Probanden [12]. Zeigten sich darauf negative Antworten, bestand keine Indikation zur klinischen Funktionsanalyse. Personen kamen als mögliche Probanden infrage, wenn sie weder orthopädische noch myogene bzw. arthrogene Beschwerden zeigten, die auf eine craniomandibuläre Dysfunktion hinweisen.

Ausschlusskriterium war die Notwendigkeit einer klinischen Funktionsanalyse oder eine vergangene orthopädische Behandlung. Auch bekannte akute oder chronische Beschwerden, wie z. B. ein Bandscheibenvorfall, Wirbelsäulenverletzungen, rheumatische Erkrankungen oder genetisch bedingte Muskelerkrankungen, zählten ebenso als Ausschlusskriterium wie stark einschränkende Fehlformen der Wirbelsäule und Beschwerden bzw. Verspannungen im Bereich des Kopfes, der Schläfen sowie in der Nacken-, Schulter-, Rücken- und Kiefergelenksregion. Im Rahmen der Probandenwahl erfolgte keine spezifische orthopädische Untersuchung, die Fehlhaltungen der Wirbelsäule, Asymmetrien der Beinlängen oder Beckenschiefstände offengelegt hätte.

Messsystem

Der SonoSens® Monitor der Firma Gefremed (Chemnitz, Deutschland) wird allgemein zur nichtinvasiven Vermessung der funktionellen Wirbelsäulenstellung verwendet.

  • Abb. 1: Schematische Darstellung der Messkanäle des SonoSens® Monitors. Durch die Position und Anordnung der Sensoren werden die Messkanäle festgelegt.

  • Abb. 1: Schematische Darstellung der Messkanäle des SonoSens® Monitors. Durch die Position und Anordnung der Sensoren werden die Messkanäle festgelegt.
Das Messgerät arbeitet mit einer Ultraschallfrequenz von 250 kHz und einer Messfrequenz von 10 Hz (12 Kanäle). Laut Herstellerangaben werden Positionsänderungen von 0,4 mm durch Lageänderungen der Sensoren registriert. Von dem Messgerät laufen 8 Kabel zu den 8 Ultraschallsensoren (Sender und Empfänger, Durchmesser 20 mm und Dicke 5 mm), die mit Klebepads auf der Haut appliziert werden. Ein Sensorpaar besteht aus einem Sender (L1/R1 und L3/R3) und einem Empfänger (L2/R2 und L4/R4), sodass sie jeweils einen Abschnitt der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule (HWS, BWS, LWS) erfassen. Sie werden auf dem unbekleideten Rücken angebracht, paravertebral je rechts- und linksseitig der Wirbelsäule im Abstand von 5 cm (Abb. 1) [8], wobei die maximale Messdistanz der Sensoren bei 50 cm liegt, während gleichzeitig ein Mindestabstand von 3 cm zwischen den Sensoren eingehalten werden muss. Zum Erhalt adäquater Messdaten werden die Sensoren an den folgenden Fixierungspunkten angepasst:

  1. tastbarer Processus spinosus von C3
  2. tastbarer Processus spinosus von Th2
  3. Höhe des Rippenansatzes, zwischen Th12 und L1
  4. medial der Spina iliaca posterior superior, oberhalb des Iliosakralgelenks Durch Bewegung verändern sich der Abstand der Sensoren zueinander sowie die Ausbreitungszeit des Ultraschalls vom Sender bis zum Empfänger.

Untersuchungsablauf

Nach dem Applizieren der Sono-Sens® Sensoren auf der Haut erfolgten zuerst zwei Kalibrierungsmessungen entsprechend den Herstellerangaben. Aufgrund der vorbestimmten Abfolge der Kalibrierungsmessungen mussten alle Messungen in der gleichen Reihenfolge durchgeführt werden, um die Gleichwertigkeit der Messdaten zu gewährleisten.

Die erste Kalibrierungsmessung zeichnete 30 Sekunden lang den aufrechten, geraden Stand auf, während die zweite Kalibrierungsmessung die individuelle, maximale Beweglichkeit (maximaler Bewegungsradius) erfasste, welche sich aus den Bewegungen der Flexion und Extension, der Lateralflexion (rechts/links) sowie der Torsion (rechts/links) (Abb. 2) zusammensetzte. Zwischen den einzelnen Messbedingungen wurde eine Pause von 5 min eingehalten, um übergreifende sensomotorische Einflüsse zu eliminieren [30]. Die Bedingungen der Messreihen (Abb. 3) waren zunächst die Ausgangsmessung in habitueller Okklusion (n), eine asymmetrische Okklusionssperrung durch 4-mm-Silikonplättchen in der rechten (Si r) und anschließend in der linken Prämolarenregion (Si l), eine symmetrische Okklusionssperrung zwischen den linken und rechten Prämolaren (Si sym) sowie eine Sperrung der Okklusion im Frontzahnbereich (Si f). Bei den Silikonplättchen (Fleximeter-Strips: Fa. Bausch KG, Köln/Deutschland) handelte es sich um zwei aufeinander gelegte Plättchen von jeweils 2 mm Dicke (insgesamt 4 mm), die mit den Zähnen unter moderater Kraft fixiert wurden.

  • Abb. 2: Bild 1: Kalibrierung im Stehen (Ausgangslage); Bild 2–7: Kalibrierung der maximalen Beweglichkeit (Flexion, Extension, Lateralflexion rechts und links, Torsion rechts und links). Für eine optimale Datenaufzeichnung stellt sich eine Person hinter den Probanden und fixiert mit den Händen auf Höhe der Spina iliaca anterior superior das Becken, um ein Vorkippen zu verhindern.
  • Abb. 3: Zunächst sind in (a) die Fleximeter-Strips (Dr. Jean Bausch KG, Köln/Deutschland) abgebildet, die übereinandergelegt zwischen den Prämolaren platziert werden und somit im Gegensatz zur habituellen Okklusion (b) die dargestellten Okklusionsstörungen bei 4 mm Sperrung hervorrufen, (c) rechtsseitige Sperrung, (d) linksseitige Sperrung, (e) frontale Sperrung, (f) symmetrische Sperrung.
  • Abb. 2: Bild 1: Kalibrierung im Stehen (Ausgangslage); Bild 2–7: Kalibrierung der maximalen Beweglichkeit (Flexion, Extension, Lateralflexion rechts und links, Torsion rechts und links). Für eine optimale Datenaufzeichnung stellt sich eine Person hinter den Probanden und fixiert mit den Händen auf Höhe der Spina iliaca anterior superior das Becken, um ein Vorkippen zu verhindern.
  • Abb. 3: Zunächst sind in (a) die Fleximeter-Strips (Dr. Jean Bausch KG, Köln/Deutschland) abgebildet, die übereinandergelegt zwischen den Prämolaren platziert werden und somit im Gegensatz zur habituellen Okklusion (b) die dargestellten Okklusionsstörungen bei 4 mm Sperrung hervorrufen, (c) rechtsseitige Sperrung, (d) linksseitige Sperrung, (e) frontale Sperrung, (f) symmetrische Sperrung.

Auswertungsparameter

Mit dem SonoSens® Monitor, der die Lage der einzelnen Sensoren der HWS, BWS und LWS erfasst, kombiniert und alle Einzelwerte zusammenrechnet, werden Veränderungen in der Sagittalebene (Extension, Flexion), Frontalebene (Lateralflexion) und der Transversalebene (Torsion) im Hinblick auf die funktionelle Wirbelsäulenstellung erfasst. Die Abweichungen von der Ausgangslage werden als Länge in mm angegeben.

Statistische Auswertungsverfahren

Statistisch überprüfte zu Beginn der Kolmogoroff-Smirnoff-Test (KS-Test) die Daten auf eine normale Wahrscheinlichkeitsverteilung. Nach Ausschluss einer Normalverteilung der Daten wurden die Ergebnisse mit dem Friedman-Test durch multiple Vergleiche auf Signifikanzen geprüft. Als Post-hoc-Test wurde der Wilcoxon-Matched-Pairs-Test eingesetzt. Anschließend erfolgte eine Korrektur der Signifikanzen nach Bonferroni- Holm. Das Signifikanzniveau dieser Tests lag bei 5 %.

Ergebnisse

Mit einer Überschreitungswahrscheinlichkeit von p ? 0,0001 (Friedman-Test) zeigen sich für den Vergleich der Messbedingungen untereinander in allen Wirbelsäulensegmenten signifikante Unterschiede. Der Mittelwert der neutralen Messung ist in allen Wirbelsäulensegmenten gegenüber denen der gesperrten Okklusionsbedingungen am größten. Somit werden Veränderungen der Wirbelsäule in der Frontal- und Sagittalebene ersichtlich (Tab. 1).

  • Tab. 1: Untergliedert in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule (HWS, BWS, LWS)2 links und rechts werden Mittelwerte, Standardabweichungen und p-Werte (Friedman-Test) für die einzelnen fünf Messbedingungen (n, Si r, Si l, Si sym, Si f)3 aufgeführt. Die Angaben der Mittelwerte entsprechen den Sensorenabständen in mm, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Gemessen wurden Extensions-, Flexions- und Lateralflexionsbewegungen.
  • Tab. 2: Untergliedert in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule (HWS, BWS, LWS) links und rechts werden Mittelwerte, Standardabweichungen und p-Werte (Friedman-Test) der Torsion für die einzelnen fünf Messbedingungen (n, Si r, Si l, Si sym, Si f) aufgeführt. Die Angaben der Mittelwerte entsprechen den Sensorenabständen in mm, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Gemessen wurden Extensions-, Flexions- und Lateralflexionsbewegungen.
  • Tab. 1: Untergliedert in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule (HWS, BWS, LWS)2 links und rechts werden Mittelwerte, Standardabweichungen und p-Werte (Friedman-Test) für die einzelnen fünf Messbedingungen (n, Si r, Si l, Si sym, Si f)3 aufgeführt. Die Angaben der Mittelwerte entsprechen den Sensorenabständen in mm, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Gemessen wurden Extensions-, Flexions- und Lateralflexionsbewegungen.
  • Tab. 2: Untergliedert in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule (HWS, BWS, LWS) links und rechts werden Mittelwerte, Standardabweichungen und p-Werte (Friedman-Test) der Torsion für die einzelnen fünf Messbedingungen (n, Si r, Si l, Si sym, Si f) aufgeführt. Die Angaben der Mittelwerte entsprechen den Sensorenabständen in mm, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Gemessen wurden Extensions-, Flexions- und Lateralflexionsbewegungen.

Auch die Torsionswerte zeigen im Gruppenvergleich in Tabelle 2 für alle Wirbelsäulensegmente mit p ? 0,0001 signifikante Unterschiede. Während die Mittelwerte der HWSund BWS-Bereiche der habituellen Okklusion größer sind als die der anderen Bedingungen, sind für die LWS in der Bedingung Si r die Werte am größten (s. Tab. 2).

Nach erfolgtem Wilcoxon-Matched-Pairs-Test mit anschließender Bonferroni-Holm-Korrektur ergeben sich signifikante Unterschiede (Tab. 3) der Bewegungen im Bereich der linken und rechten HWS zwischen n und Si r (p, pTor ? 0,01; pTol ? 0,02)1, Si l (p, pTo ? 0,00), Si sym (p, pTo ? 0,00) und Si f (p, pTo ? 0,00). Ferner unterscheidet sich bei der rechten HWS die Messbedingung Si r von Si l (p ? 0,03; pTo ? 0,01), Si sym (p ? 0,01; pTo ? 0,00) sowie Si f (p ? 0,01; pTo ? 0,01) signifikant. Weiterhin haben sich die Torsionswerte der linken HWS zwischen Si r und Si l (pTo ? 0,05) oder Si r und Si f (pTo ? 0,05) verändert.

Hinsichtlich der linken BWS ist eine Veränderung zwischen den Bedingungen n und Si r (p ? 0,02, pTo ? 0,00) zu registrieren. Beidseitig lassen sich Signifikanzen für die Vergleiche n vs. Si sym bzw. n vs. Si f (p, pTo ? 0,00) berechnen. Allein für die rechte BWS ist bei dem Vergleich n vs. Si l eine Veränderung der Torsion (pTo ? 0,01) zu verzeichnen. Bei der linken BWS zeigen sich weitere Unterschiede zwischen Si r und Si f (pTo ? 0,05), Si l und Si sym (p, pTo ? 0,01) sowie Si l und Si f (p ? 0,02; To: p ? 0,00). Die Gegenüberstellung der rechten BWS zwischen Si r und Si f (p ? 0,04; pTo ? 0,00) sowie Si l und Si f (p, pTo ? 0,00) zeigt signifikante Unterschiede. Hinsichtlich der Torsion sind für die Vergleiche n vs. Si r (pTo ? 0,04), Si r vs. Si sym (pTo ? 0,01) und Si sym vs. Si l bzw. Si sym vs. Si f (pTo ? 0,04) nachweisliche Signifikanzen zu verzeichnen.

  • Tab. 3: Signifikante Paarvergleiche der Messbedingungen beim Stehen für die linke und rechte Körperseite (Wilcoxon-Matched-Pairs Test und Bonferroni-Holm-Korrektur). Dargestellt sind zum einen die p-Werte der Frontalebene (Extension, Flexion, Lateralflexion) und zum anderen die p-Werte der Transversalebene (Torsion).

  • Tab. 3: Signifikante Paarvergleiche der Messbedingungen beim Stehen für die linke und rechte Körperseite (Wilcoxon-Matched-Pairs Test und Bonferroni-Holm-Korrektur). Dargestellt sind zum einen die p-Werte der Frontalebene (Extension, Flexion, Lateralflexion) und zum anderen die p-Werte der Transversalebene (Torsion).
Im Bereich der linken LWS sind Veränderungen (p ? 0,00) beim Vergleich von n und Si l, Si sym sowie Si f ersichtlich. Die Torsionswerte der linken LWS unterscheiden sich im Vergleich zwischen n und Si sym bzw. Si f (pTo ? 0,02) signifikant. Weitere Signifikanzen finden sich im Bereich der linksseitigen LWS zwischen Si r und Si sym (p ? 0,00, pTo ? 0,03) oder Si f (p ? 0,01, pTo ? 0,03). Bei der rechten LWSSeite sind bei allen Vergleichen der Ausgangslage mit den gemessenen Okklusionssperrungen signifikante Ergebnisse (p ? 0,00 bzw. 0,01) in der Frontal- und Sagittalebene festzustellen. Bezüglich der Torsionswerte der rechten LWS sind die Vergleiche n vs. Si sym (pTo ? 0,00) bzw. Si f (pTo ? 0,02) signifikant (s. Tab. 3).

Diskussion

In dieser Studie konnte eine Beeinflussung der Oberkörperhaltung beim Stehen registriert werden, die durch zwischen den Prämolaren oder den Frontzähnen platzierte Silikonplättchen hervorgerufen worden ist. Basierend auf dem Denkmodell einer schnell angepassten Regulation des neuromuskulären Funktionskreises führt eine Veränderung der Unterkieferposition zu veränderten afferenten Impulsen, die durch eine Aktivierung oder Inhibierung der Kaumuskulatur über neuronale Verschaltungen zur Aktivierung oder Inhibierung der gesamten Körpermuskulatur führen. Die Veränderung der Oberkörperhaltung ist jedoch trotz unterschiedlich afferentem Impulsmuster für alle Silikonplättchenpositionen gleich und damit positionsunabhängig.

Aufgrund der folgenden Resultate bestätigen sich die erste und dritte der anfänglich aufgestellten Hypothesen. Eine temporäre Manipulation der Okklusion im Bereich der Prämolaren und der Frontzähne führt zu einer messbaren Abweichung der Wirbelsäulenstellung während des Stehens im Vergleich zur habituellen Okklusion, wobei die Effekte der Okklusionsstörung in jedem Wirbelsäulensegment unterschiedlich sind. Demgegenüber ist die zweite Hypothese abzulehnen, denn die Veränderungen der Wirbelsäulenstellung sind unabhängig von der Positionierung des Okklusionshindernisses. Es werden hier nahezu die gleichen Veränderungen hervorgerufen.

Tendenziell haben die Probanden im Stehen eine durchschnittliche Oberkörperhaltung bei neutraler Ausgangslage ohne Okklusionsmanipulation in Form einer linksseitigen Lateralflexion kombiniert mit einer rechtsseitigen Torsion im HWS-Bereich, wobei sich die rechtsseitige Torsion in der BWS und LWS fortsetzt, während eine rechtsseitige Lateralflexion in diesen beiden Abschnitten registriert wird. Durch die provozierte Okklusionssperrung verändert sich die Oberkörperhaltung hin zu einer linksseitigen Lateralflexion, Extension sowie rechtsseitigen Torsion der Wirbelsäule.

  • Abb. 4 Box-Plots der Messbedingungen mit Mittelwert und Standardabweichung am Beispiel der HWS links beim Stehen. Die Werte sind in mm dargestellt, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Die rote Linie stellt den MW der Bedingung n dar und veranschaulicht, in wie weit sich die MW der Bedingungen Si r, Si l, Si sym und Si f von dieser Linie differenzieren.
  • Abb. 5: Box-Plots der Messbedingungen mit Mittelwert und Standardabweichung am Beispiel der HWS links beim Stehen/Torsion. Die Werte sind in mm dargestellt, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Die rote Linie stellt den MW der Bedingung n dar und veranschaulicht, in wie weit sich die MW der Bedingungen Si r, Si l, Si sym und Si f von dieser Linie differenzieren.
  • Abb. 4 Box-Plots der Messbedingungen mit Mittelwert und Standardabweichung am Beispiel der HWS links beim Stehen. Die Werte sind in mm dargestellt, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Die rote Linie stellt den MW der Bedingung n dar und veranschaulicht, in wie weit sich die MW der Bedingungen Si r, Si l, Si sym und Si f von dieser Linie differenzieren.
  • Abb. 5: Box-Plots der Messbedingungen mit Mittelwert und Standardabweichung am Beispiel der HWS links beim Stehen/Torsion. Die Werte sind in mm dargestellt, was der Distanz zwischen den Sensoren der Wirbelsäulensegmente entspricht. Die rote Linie stellt den MW der Bedingung n dar und veranschaulicht, in wie weit sich die MW der Bedingungen Si r, Si l, Si sym und Si f von dieser Linie differenzieren.

Nach Silikonplättchenpositionierung verändert sich die im HWS-Segment vorliegende linksseitige Lateralflexion und rechtsseitige Torsion, sodass sich sowohl die Lateralflexion als auch die Torsion reduzieren und zudem eine Extension resultiert. Unterschiede werden dabei zwischen linker und rechter HWS bei asymmetrischer und symmetrischer Manipulation der Okklusion deutlich. Bei der rechtsseitigen Okklusionssperrung zeigt sich auf der kontralateralen linken HWS-Seite eine stärkere Extension, die gleiche kontralaterale Veränderung ist bei linksseitiger Bisssperrung zu erkennen. Die letzte Veränderung ist ebenfalls bei symmetrischer Bisssperrung auf der rechten HWS-Seite zu registrieren. Auch in transversaler Ebene zeigt sich für das rechtsseitige Positionieren der Silikonplättchen eine größere, in diesem Fall ipsilaterale Torsion der HWS nach rechts als durch kontralaterales, asymmetrisches (Si l) oder frontales Positionieren des Okklusionshindernisses.

Auch der BWS-Abschnitt zeigt Veränderungen durch die Sperrung der Okklusion. Die kombinierte Lateralflexion und Torsion nach rechts wandelt sich auf der rechten Körperseite durch eine frontale Sperrung sowie durch symmetrisches Positionieren der Silikonplättchen zwischen die Prämolaren hin zu einer Lateralflexion nach links, einer Extension sowie einer geringeren Torsion nach rechts. Gleiches ist bei rechtsseitiger Okklusionssperrung auf der linken BWS-Seite zu verzeichnen. In transversaler Ebene reduziert sich die Rechtstorsion der rechten BWS-Seite bei asymmetrischer links- sowie rechtsseitiger Platzierung der Interponate. Die bei frontaler Sperrung resultierende Extension der rechten BWS ist größer als diejenige, welche bei asymmetrischer Silikonplättchenpositionierung entsteht. Dieser Effekt ist bei Si l als eine kontralaterale und bei Si r als eine ipsilaterale Reaktion der rechten BWS auf die Manipulation der Okklusion in der sagittalen Ebene des Oberkörpers zu verstehen. Auch die Rechtstorsionsbewegung der BWS ist bei rechtsseitiger Okklusionssperrung größer als bei frontaler Silikonplättchenpositionierung. Gleiches ist in der rechten BWS-Hälfte im Vergleich zur symmetrischen Platzierung der Interponate zu verzeichnen. Die Gegenüberstellung zwischen linksseitiger und symmetrischer Sperrung offenbart in der rechten BWS eine größere rechtsseitige Torsion bei Si l. Demgegenüber zeigt der Vergleich von Si sym und Si f eine stärkere Torsion bei Si sym. Generell kann eine stetige Verringerung der Rechtstorsionsbewegung der rechten BWS durch Manipulation der Okklusion gegenüber der neutralen Referenzmessung beobachtet werden.

Die rechtsseitige Lateralflexion sowie Torsion der LWS verändert sich beidseitig durch linksseitige, symmetrische und frontale Positionierung der Silikonplättchen hin zu einer Extension und einer Lateralflexion nach links. Durch rechtsseitige Manipulation der Okklusion ist diese Veränderung neben der linken ebenso in der rechten LWS zu registrieren. Es zeigt sich also eine der Silikonplättchenposition entsprechende ipsilaterale Reaktion der rechten LWS. In der linken LWS ist zudem eine größere Extensionsbewegung bei symmetrischer und frontaler Positionierung der Silikonplättchen zu verzeichnen als bei rechtsseitiger Sperrung. In transversaler Ebene kommt es tendenziell bei symmetrischer und frontaler Bisssperrung zu einer geringeren rechtsseitigen Torsionsbewegung der LWS im Vergleich zur habituellen Okklusion.

Somit kann geschlussfolgert werden, dass sich eine asymmetrische bzw. symmetrische Manipulation der Okklusion auf die funktionelle Wirbelsäulenposition beim Stehen auswirkt. Neben den registrierten grundsätzlichen Abweichungen gegenüber der Oberkörperhaltung der neutralen Referenzmessung sind die Reaktionen in jedem Wirbelsäulensegment abhängig von der Positionierung der Silikonplättchen unterschiedlich. Sowohl kontra- als auch ipsilaterale Reaktionen sind in jedem Wirbelsäulenabschnitt zu erkennen, die jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse auf Wechselwirkungen zwischen der Platzierung der Silikonplättchen und der Wirbelsäulenhaltung zulassen.

Die Ergebnisse des Stehens bestätigen einen funktionellen Zusammenhang zwischen manipulierter Okklusionsposition und Oberkörperhaltung und weisen auf einen Funktionskreis des Körpers hin, in welchem alle Strukturen, wie Knochen, Bänder, Gelenke, Muskeln, Faszien und Nerven, für die Funktion der Körperhaltung und Bewegung synergistisch vernetzt, voneinander abhängig und miteinander verbunden sind. Dieses verdeutlichen Studien von Fink et al. [4], Schupp et al. [23], Nötzel et al. [16] und Kopp et al. [11]. Eine temporäre Veränderung der Okklusion ruft neue Informationsflüsse der Propriozeptoren hervor [2,5]. Das ZNS erhält asymmetrische oder symmetrische Afferenzen über die Lage der Unterkieferposition, die efferent mit einer angepassten Muskelaktivität beantwortet werden, um unphysiologische Belastungen der Kiefergelenke und des Unterkiefers zu verhindern. Eine gegenüber der habituellen Okklusion veränderte Kaumuskelaktivierung ist die Folge. Veränderte afferente Impulse erreichen den N. trigeminus. Trigeminale protopathische Afferenzen werden dem Nucleus spinalis n. trigemini zugeleitet und können über spinale Neurone kaudal im Rückenmark zu peripheren Innervationen führen. Über den Nucleus mesencephalicus n. trigemini können Kollateralen die Formatio reticularis oder das Kleinhirn erreichen und die Steuerung der Motorik beeinflussen. Folglich wird eine durch trigeminale Reize ausgelöste Veränderung der Muskelaktivität mit einer resultierenden Veränderung der Oberkörperhaltung verständlich. Tieruntersuchungen von Manni et al. [13] und Szentágothai und Rajkovits [26] können Verknüpfungen zwischen Neuronen des stomatognathen Systems und zentralnervösen Strukturen bestätigen.

Ebert [1] zeigt in seiner Studie, dass die Kraft sowohl des dem Silikonplättchen kontralateral gelegenen M. masseter als auch die des arbeitsseitigen M. masseter der vertikalen Höhe beim Beißen angepasst wird. Eine bedeutende Rolle in der Regulation der Kaumuskelkraft spielen Muskelspindeln, während Mechanorezeptoren des Desmodonts, der Haut und der Schleimhaut nur begrenzt modulierend wirken.

Die Ergebnisse der habituellen Okklusion dienen der Referenz und ermöglichen die Beurteilung einer durch Manipulation der Okklusion veränderten Oberkörperhaltung und Bewegung. Der Vergleich der Ergebnisse zeigt signifikant geringere Sensorenabstände durch Positionieren der Silikonplättchen. Diese resultieren allgemein in einer linksseitigen Lateralflexion, Extension sowie geringeren Torsion nach rechts. Ein funktioneller Zusammenhang zwischen Oberkörperhaltung und temporärer Manipulation der Okklusion wird offensichtlich. Das Platzieren von Silikonplättchen führt zu einer unmittelbar messbaren Abweichung der Wirbelsäulenposition und Beweglichkeit während des Stehens. Abhängig von der Positionierung des Okklusionshindernisses zeigen sich in jedem Wirbelsäulensegment unterschiedliche Abweichungen der Oberkörperhaltung, jedoch ist kein kausaler Zusammenhang zwischen Silikonplättchenposition und ipsi- oder kontralateraler Wirbelsäule zu erkennen.

Fazit

Diese Ergebnisse verdeutlichen ein komplexes, die Haltung regulierendes, ganzkörperliches neuromuskuläres System, welches durch Afferenzen aus Desmodont, Kiefergelenk und Kaumuskulatur Einfluss auf die Aktivität der stabilisierenden Muskulatur des Oberkörpers durch efferente Anpassung oder Kompensation ausüben kann.

Autoren: Seebach, K.; Ohlendorf, D.; Chung, TL.; Kopp, S.

 

 


Informationen:
  • 1 Im Folgenden werden die Torsionswerte mit To abgekürzt, entsprechend der Wirbelsäulenseite kann ein r (rechts) bzw. l (links) ergänzend hinzugefügt sein, falls es sich nur um eine Körperseite handelt. Sofern keine Seite hinzugefügt ist, sind beide Körperseiten gemeint.
  • 2 Für eine bessere Übersicht werden die Wirbelsäulensegmente mit ihren Abkürzungen verwendet.
  • 3 Für eine bessere Übersicht werden die Messbedingungen mit ihren Abkürzungen verwendet.
Näheres zum Autor des Fachbeitrages: Dr. Daniela Ohlendorf - Kamilla Seebach

Bilder soweit nicht anders deklariert: Dr. Daniela Ohlendorf , Kamilla Seebach