Kariesexkavation – nicht alles neu, aber einiges besser?
Traditionell galt die vollständige Kariesexkavation als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche restaurative Therapie. Neue Ergebnisse aus klinischen Studien und ein besseres Krankheitsverständnis haben in den vergangenen Jahren zu einem Paradigmenwechsel bei der Behandlung kariöser Läsionen geführt. Untersuchungen belegen, dass bei tiefer Karies das selektive Belassen kariösen Dentins in Pulpennähe zu weniger Pulpenexpositionen und postoperativen Komplikationen führt. Befürchtungen hinsichtlich einer voranschreitenden Karies durch zurückbleibende Bakterien wurden aufgrund der dicht versiegelnden Wirkung der Restauration hingegen nicht bestätigt. Im nachfolgenden Beitrag werden verschiedene Strategien zur Kariesexkavation vorgestellt sowie deren Vor- und Nachteile auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse aufgezeigt und bewertet.
Kariesmanagement
Basierend auf einem Verständnis von Karies als infektiöse Erkrankung, deren Erreger zur Heilung zu entfernen seien, wurde kariöses Gewebe traditionell vollständig ausgeräumt. Dabei wurden sowohl Dentin, das mit Bakterien durchsetzt war (engl. „infected“), als auch demineralisiertes, aber bakterienarmes oder -freies Dentin („affected“) entfernt [2]. Im Gegensatz dazu wird Karies heute vielmehr als eine schrittweise Veränderung der Biofilmzusammensetzung und -aktivität verstanden, bei der durch die häufige Zufuhr fermentierbarer Kohlenhydrate bestimmte (kariogene) Bakterien einen Wettbewerbsvorteil erlangen, indem sie aus Kohlenhydraten Säuren metabolisieren (Azidogenität), dadurch den pH-Wert absenken und somit andere, nicht säureresistente (azidurische) Bakterien verdrängen. Resultat dieser schrittweisen Verschiebung ist ein Biofilm, der vermehrt aus pathogenen Bakterien besteht und bei Kohlenhydratzufuhr rasch große Säuremengen bildet. Da bei niedrigem pH-Wert Mineralien aus den Zahnhartsubstanzen gelöst werden, stellt sich schließlich ein Nettoverlust an Mineralien ein, der zur Bildung einer kariösen Läsion als Symptom der Erkrankung führt [3].
Basierend auf dieser „ökologischen Plaquehypothese“, wurde die traditionelle Therapie kariöser Läsionen als rein symptomatische Behandlung (Entfernung des Ergebnisses des Krankheitsprozesses, aber nicht der Ursachen) kritisiert. Zudem konnte eine Reihe von Studien zeigen, dass auch bei angestrebter „vollständiger“ Entfernung allen kariösen Dentins aus einer Kavität stets Mikroorganismen verbleiben, also Bakterienfreiheit nicht herzustellen ist [4–7]. Moderne Konzepte zum „Management” von Karies (Verhindern neuer und Therapie vorhandener Läsionen durch Ursachenbekämpfung) vermeiden daher zunächst invasive Therapien und streben eine Kontrolle der Biofilm- und Läsionsaktivität an. Hauptziel dieses zurückhaltenden, wenig invasiven Ansatzes ist die Vermeidung der Restaurationsspirale (Abb. 1), also des eskalierenden Austausches von Restaurationen, der Zahnhartsubstanz opfert, teuer ist und schließlich zum Zahnverlust führen kann [8,9].
Zum Management nichtkavitierter Läsionen wird eine große Zahl von Behandlungsstrategien eingesetzt, die, ohne invasiv vorzugehen, ein Voranschreiten der Läsion verhindern und möglichst auch eine Umkehr des Nettomineralverlustes (also eine Remineralisierung) erreichen [10]. Hierzu zählen beispielsweise Ernährungsberatung (Verringerung der Kohlenhydratzufuhr), mechanische oder chemische Biofilmkontrolle oder Remineralisierung mittels Fluoriden. Neben diesen noninvasiven Strategien stehen Zahnärzten heute auch mikroinvasive Therapien zur Verfügung, bei denen wenige Mikrometer Zahnhartsubstanz entfernt werden, üblicherweise durch Applikation von Säure. Letztere dient beispielsweise bei der Versiegelung zur Konditionierung der Oberfläche (mikroretentive Haftung des Versiegelungsmaterials) oder bei der Kariesinfiltration zur Entfernung der Oberflächenschicht (wodurch dünnfließende Kunststoffe, sog. Infiltranten, in den porösen Schmelz eindringen und in die Tiefe der Läsion penetrieren können). Beide Techniken nutzen das Prinzip der Diffusionsbarriere, also der Etablierung einer Schutzschicht auf oder im Zahn, die einen säureinduzierten Mineralverlust verhindert. Eine wachsende Zahl von Studien belegt, dass beide Strategien geeignet sind, Läsionen zu arretieren (also ihr Voranschreiten zu verhindern) [11,12].
Weder non- noch mikroinvasive Managementstrategien streben eine Entfernung kariösen Gewebes an, sondern bekämpfen die Ursachen der Erkrankung (Kohlenhydratzufuhr, Biofilmaktivität) oder unterbrechen die Prozesse, die zur Entstehung oder Progression einer Läsion führen (Netto-Mineralverlust). Bis auf wenige Ausnahmen wurden diese Strategien bisher nur bei nicht kavitierten Läsionen eingesetzt. Letztere sind reinigungsfähig und erlauben eine kausale Therapie. Versiegelungen können theoretisch auch bei kavitierten Läsionen erfolgreich eingesetzt werden. Begrenzend für den Erfolg einer solchen Versiegelung sind die Retention des Materials und die Stabilität (Frakturresistenz) des Versieglers. Kunststoffversiegelungen scheinen in dieser Indikation wenig geeignet, da sie – gerade bei ausgedehnten Kavitationen – übermäßig häufig frakturieren oder verloren gehen. Daher werden bei Milchzähnen auch Versiegelungen mittels präformierter Stahlkronen (sog. „Hall-Technik“) durchgeführt. Diese Technik erlaubt ein modernes, kausales Management kavitierter Läsionen und kombiniert diese mit hohen Erfolgschancen der platzierten Restauration (Stahlkrone) [13,14]. Ausgehend von der engen Indikation dieser Technik wird bei der Mehrzahl der kavitierten Läsionen auch heute noch invasiv vorgegangen.
Ziele von invasiver Therapie und Kariesexkavation
Invasive Therapien haben die anschließende Restauration der eingebrochenen Zahnoberfläche zur Wiederherstellung der Reinigungsfähigkeit zum Ziel (im Sinne einer Tertiärprophylaxe). Hingegen können restaurative Therapien, wie bereits dargestellt, nicht als kausale Behandlung gelten, wenn sie nur nach der Entfernung des erkrankten Gewebes streben. Traditionell wurde im Zusammenhang mit einer restaurativen Therapie kariöses Dentin „vollständig“ ausgeräumt (ebenfalls vor dem Hintergrund, die kariesbedingenden Erreger zu entfernen). Neben der Bakterienentfernung sollten so eine retentive Kavität geschaffen (z. B. für eine anschließend zu platzierende Amalgamrestauration) und demineralisiertes Dentin entfernt werden [15,16]. Wie dargestellt, ist Bakterienfreiheit jedoch nicht zu erreichen; zurückbleibende Bakterien werden durch eine Restauration von den Nahrungskohlenhydraten abgeschnitten und sterben ab [17–21]. Ebenso werden moderne zahnärztliche Restaurationen adhäsiv eingebracht und benötigen keine unterschnittigen (makroretentiven) Präparationen. Zuletzt kann demineralisiertes Dentin durch Restaurationsmaterialien oder pulpale Aktivitäten remineralisiert werden und muss (gerade in Pulpennähe) nicht entfernt werden [22–24]. Die traditionellen Gründe, warum kariöses Dentin vor einer Restauration überhaupt entfernt wird, gelten daher nur noch sehr bedingt. International besteht demnach ein gewisser Konsens, dass das Hauptziel der Kariesexkavation die Herstellung günstiger restaurativer Ausgangsbedingungen ist: Wenn die Restauration in weiten Teilen durch festes Dentin unterstützt wird und an ausreichend großen Haftungsflächen mit intaktem Dentin adhäsiv verankert werden kann, sind die Chancen für ein langfristiges Restaurationsüberleben hoch [16].
Exkavationsstrategien
Bestehende Strategien zur Kariesexkavation wurden vor Kurzem in einer internationalen Konsensuskonferenz diskutiert [15,16]. Ausgehend von den dargestellten Argumenten, sollten folgende Aspekte bei der Exkavation beachtet werden:
- Gesundes oder remineralisierbares (also bakterienarmes oder -freies, demineralisiertes) Dentin sollte erhalten, nicht entfernt werden,
- die verbleibende kariöse Läsion sollte dicht versiegelt werden; dazu ist eine ausreichend breite Zone peripher gesunden Dentins und Schmelzes zur maximalen Haftung nötig,
- die pulpale Gesundheit sollte geschützt werden, indem maximale Residualdentinschichten erhalten und Pulpenexpositionen verhindert werden, und
- die Überlebenschance der zu platzierenden Restauration sollte maximiert werden, indem in weiten Teilen der Kavität festes Dentin zur Unterstützung zurückbleibt und ausreichend gesunde Dentinflächen zur Haftung der Restauration genutzt werden [15,16].
Gerade die Vermeidung pulpaler Expositionen ist relevant, um das langfristige Überleben der Pulpa und des Zahnes sicherzustellen. Dies ist vor allem für vitale Zähne mit tiefen Läsionen relevant (also Zähne mit Läsionen, die ins innere Dentindrittel reichen), da hier eine mechanische Pulpenexposition bei vollständigem Ausräumen jeglichen kariösen Dentins wahrscheinlich ist. Diese würde entweder mittels direkter Überkappung oder Vitalexstirpation therapiert werden, was entweder wenig erfolgversprechend (direkte Überkappung) oder aufwendig und invasiv ist (Wurzelkanalbehandlung) [25–27]. Bei tiefen Läsionen sollte demnach das Pulpenüberleben schwerer wiegen als der restaurative Erfolg. Im Gegensatz dazu sollte bei der Exkavation flacher oder mitteltiefer Läsionen, bei denen Pulpenkomplikationen unwahrscheinlich sind, das restaurative Überleben in den Fokus rücken. Aus diesen Überlegungen wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Strategien zur Kariesexkavation entwickelt, die eine individualisierte Therapie zulassen (Abb. 2). Die folgenden Überlegungen gelten nur bei Zähnen mit vitalen, asymptomatischen Pulpen.
Die konventionelle Einteilung dieser Strategien sah u. a. eine Trennung nach der „Vollständigkeit” der Exkavation vor (z. B. vollständig versus unvollständig). Diese Einteilung ist jedoch kritisch, da sie nicht definiert, nach welchem Kriterium Vollständigkeit überprüft werden soll (Härte – nur hartes Dentin verbleibt?; Bakterien – nur bakterienfreies Dentin verbleibt?; Farbe – nur nicht verfärbtes Dentin verbleibt?). Wie dargestellt, ist zudem eine vollständige Exkavation jedenfalls von Bakterien nur schwerlich möglich und ausgehend von dem veränderten Verständnis der Kariespathogenese und der Wirkung einer dicht versiegelnden Restauration auch nicht nötig. Daher werden diese Strategien heute vielmehr prozedural benannt, also nach den typischen Charakteristika der jeweiligen Exkavationsstrategie (ihrem Endpunkt, ihrer zeitlichen Organisation) [15,16].
• Nonselektive Kariesentfernung bis zum harten Dentin (ehemals „vollständige Exkavation”)
Hierbei wird sowohl in der Peripherie als auch in zentralen, pulpennahen Bereichen nur sondenhartes Dentin zurückgelassen („nonselektiv“). Dabei wird auch demineralisiertes, bakterienfreies Dentin entfernt. Diese Exkavationsmethode ist basierend auf den dargelegten Argumenten nicht mehr empfehlenswert, da sie unnötig Zahnhartsubstanz abträgt und in Pulpennähe zu Komplikationen führt.
• Selektive Kariesentfernung bis zum festen Dentin
Hierbei wird in der Peripherie so exkaviert, dass hartes Dentin verbleibt, während in zentralen (pulpennahen) Bereichen festes Dentin zurückbleibt. Festes Dentin ist nur unter Kraftanstrengung mit einem Handexkavator zu entfernen; es ist jedoch nicht sondenhart. Da zentral ein anderes Exkavationskriterium als peripher genutzt wird, wurde diese Strategie als „selektive” Exkavation bezeichnet. Sie ist geeignet für Läsionen, die nicht in das innere Dentindrittel reichen (also jene, bei denen Pulpenkomplikationen unwahrscheinlich sind und das Restaurationsüberleben priorisiert werden sollte). In tiefen Läsionen hingegen drohen Pulpenkomplikationen – hier ist diese Strategie nicht empfehlenswert.
• Selektive Kariesentfernung bis zum weichen Dentin (Abb. 3)
Hier wird ebenfalls peripher exkaviert, bis hartes Dentin verbleibt. Hierdurch kann anschließend eine stabile und dicht versiegelnde Restauration platziert werden. In zentralen (pulpanahen) Bereichen wird hingegen das Zurückbleiben weichen Dentins akzeptiert, um eine Pulpenexposition zu verhindern. Weiches Dentin ist ohne Kraftanstrengung mit einem Handexkavator zu entfernen. Die Anwendung dieser Strategie für tiefe Läsionen schont die Pulpa und ist langfristig vorteilhaft gegenüber einem nonselektiven Vorgehen oder der selektiven Exkavation bis zum festen Dentin [28,29]
• Schrittweise Kariesentfernung
Hierbei wird kariöses Dentin in zwei Schritten entfernt [19,28,30,31]. Im ersten Schritt wird peripher exkaviert, bis nur hartes Dentin verbleibt, während zentral weiches Dentin belassen und durch eine temporäre Restauration versiegelt wird. Der erste Schritt entspricht demnach der selektiven Exkavation bis zum weichen Dentin. Nach 6–12 Monaten wird die Restauration entfernt und exkaviert, bis auch zentral nur festes Dentin verbleibt. In der Zeit zwischen den Exkavationen soll Reizdentin gebildet und das versiegelte kariöse Dentin remineralisiert werden, wobei es auch zu einer drastischen Abnahme der Bakterienzahlen kommt. Da im zweiten Schritt oft nur noch wenig Dentin entfernt wird, jedoch erneut eine Pulpenexposition droht, die Behandlung generell Kosten verursacht und die Patienten erneut belastet [28,32,33], wird die schrittweise Exkavation zunehmend kritisch diskutiert. Gerade bei Milchzähnen (größere Gefahr der Exposition) und Kindern im Allgemeinen (größere Belastung durch Zweiteingriff) ist eine selektive Kariesentfernung bis zum weichen Dentin möglicherweise vorzuziehen.
Mittlerweile gibt es eine große Zahl von Studien, welche die verschiedenen Exkavationsstrategien miteinander verglichen haben. Diese wurden in verschiedenen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen zusammengefasst [28,29]. So ist das Risiko einer Pulpenexposition während der schrittweisen oder der selektiven Kariesentfernung bis zum weichen Dentin im Vergleich mit einer nonselektiven oder selektiven Exkavation bis zum festen Dentin um ca. 70 % reduziert [29]. Das Risiko einer Pulpenexposition ist nochmals geringer, wenn nur selektiv bis zum weichen Dentin anstatt schrittweise exkaviert wird. Langfristig betrachtet bedeutet eine solche Vermeidung pulpaler Expositionen weniger endodontische Nachbehandlung, geringere Kosten und den längeren Erhalt von Zähnen [25]. Auch das Risiko postoperativer Pulpenkomplikationen (Schmerzen, Abszesse) scheint für Zähne, deren Pulpen nicht eröffnet worden waren, nach schrittweiser oder selektiver Exkavation bis ins weiche Dentin geringer als nach invasiveren Exkavationsstrategien (Odds Ratio [95 % Konfidenzintervall]: 0,58 [0,31/1,10]). Einzig das Risiko restaurativer Komplikationen scheint erhöht, wenn große Mengen weichen Dentins zurückgelassen werden. Demnach sollte auch bei tiefen Läsionen die oben beschriebene Abwägung zwischen Pulpa- und Restaurationsüberleben erfolgen und so viel kariöses Dentin entfernt werden, wie ohne Pulpaschädigung möglich ist.
Einschränkungen
Vor dem Hintergrund des möglicherweise eingeschränkten Restaurationsüberlebens nach selektiver Exkavation wurde eine Reihe von Studien zur Haftkraft dentaler Adhäsivsysteme an kariösem Dentin durchgeführt. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Haftung sowohl an demineralisiertem, aber bakterienarmem Dentin und, mehr noch, an bakteriell durchsetztem Dentin (dessen Kollagengerüst stark verändert ist) stark eingeschränkt war. Dies traf sowohl auf Systeme, die Säureätzung mit anschließender Abspülung der Säure durchführten („Etch and Rinse”), als auch auf selbstätzende Adhäsive zu [34]. Eine weitere Studie untersuchte Molaren, bei denen tiefe okklusale Läsionen nonselektiv oder selektiv bis zum weichen Dentin exkaviert wurden. Nach selektiver Exkavation zeigten diese Zähne reduzierte Frakturresistenzen, wobei oftmals die Restauration in die Läsion hinein frakturierte („ice cracks“) [35]. Folgende Begründungen werden für die beobachteten reduzierten Haft- und Fraktureigenschaften angeführt: Demineralisiertes Dentin ist poröser und seine Dentintubuli sind durch Mineralpräzipitate obliteriert, was zu einer unvollständigen Penetration der nunmehr dickeren Hybridschicht führt. Dies schränkt die Haftkräfte ein und hinterlässt Kollagenfibrillen, die nur partiell von Kunststoff umschlossen, also teilweise ungeschützt sind [36]. Zudem ist das belassene kariöse Dentin mechanisch kompromittiert, weil es weicher und weniger elastisch ist [37]. Bei Läsionen, auf die große mastikatorische Kräfte wirken (z. B. okklusal), könnten Restaurationen also nicht ausreichend „unterstützt“ sein und in das weiche Läsionsgewebe hinein frakturieren (wie oben diskutiert). Die Kombination von reduzierter Haftkraft und eingeschränkter Unterstützung der Restauration könnte schlussendlich zu mehr Frakturen und Restaurationsverlusten sowie einer verschlechterten Randintegrität und mehr Sekundärkaries führen. Diese Befürchtungen konnten jedoch weder in vitro (also in laborexperimentellen Studien) noch in klinischen Untersuchungen bestätigt werden. Die Frakturresistenz von Zähnen, bei denen kleinflächig kariöses Dentin zurückgelassen wurde (z. B. bei Prämolaren an den pulpo-axialen Wänden), war nicht signifikant geringer als die von Zähnen nach nonselektiver Exkavation [38]. Gleiches galt für die Randintegrität und das Risiko einer Sekundärkariesentstehung an den zervikalen Rändern [39].
Zwei mögliche Erklärungsversuche für die unterschiedlich starken Effekte belassenen kariösen Dentins betreffen 1. die Lokalisation der Läsion und 2. die Menge des zurückgelassenen kariösen Dentins. Wenn Läsionen entlang der Kaukräfte orientiert sind (z. B. pulpo-axial), dürfte die mangelnde mechanische Unterstützung der Restauration nur geringe Auswirkungen auf die Frakturresistenz der Restauration haben. Hingegen könnte das Zurücklassen kariösen Dentins bei Läsionen, die senkrecht zu Kaukräften ausgerichtet sind (z. B. okklusal), zu mehr Restaurationsfrakturen führen. Hier bietet sich möglicherweise die Verwendung von glasfaserverstärkten Kompositen an, die in laborexperimentellen Studien die Frakturresistenz von selektiv exkavierten Zähnen erhöhten [40]. Zum Zweiten scheint die Menge des kariösen Dentins relevant. Gerade in Studien, bei denen wenig exkaviert wurde (selektive Exkavation bis zum sehr weichen Dentin bzw. – wie diskutiert – keinerlei Exkavation und Versiegelung mit Kunststoffen), wurden vermehrt Restaurationsverluste beobachtet, während dies bei kleinflächigem Zurücklassen dünner Schichten kariösen Dentins nicht beobachtet wird [41,42].
Weitere Einschränkungen betreffen die praktische Anwendung der selektiven Exkavation bzw. die anschließende Restauration. So ist unklar, ob eine Desinfektion der Kavität sinnvoll ist. Gerade der Einsatz einer Chlorhexidinspülung könnte vorteilhaft sein, um die Langlebigkeit des Haftverbundes zu sichern: Chlorhexidin (CHX) inaktiviert Matrixmetalloproteasen, also Dentinenyzme, welche die Hybridschicht angreifen und freiliegendes Kollagen (siehe oben: unvollständige Penetration des Kollagennetzwerkes) abbauen. Eine solche Enzyminaktivierung durch CHX ist theoretisch geeignet, Leakage-Phänomene zu reduzieren und das Restaurationsüberleben zu verbessern. Klinische Studien untermauern diese Annahme bisher jedoch nicht, was an unzureichend langen Nachbeobachtungszeiten liegen könnte [43,44]. Zur Inhibition von Matrixmetalloproteasen wird zudem eine Ethanolvorbehandlung der Kavität diskutiert; auch hier gibt es jedoch nur wenig klinische Daten (die einzige kontrollierte Studie zeigte keinen Effekt dieser Behandlung auf den Restaurationserfolg nach 1,5 Jahren) [45–47]. Weitere Unsicherheiten betreffen die Nutzung eines medikamentösen Liners, z. B. auf Kalziumhydroxidbasis. Die antibakterielle Wirkung dieses Lining-Materials scheint im Vergleich mit Alternativen auf Antibiotika- oder Kalziumsilikatbasis (z. B. MTA) relativ gering zu sein [48]. Die Vorteile von Kalziumhydroxidlinern konnten klinisch bisher nicht belegt werden [49]. Zuletzt verbleiben Unsicherheiten hinsichtlich der radiologischen Detektierbarkeit belassener versiegelter Läsionen. Diese sind nicht von übersehenen oder reaktivierten Läsionen abzugrenzen, was einerseits zu unnötigen Nachbehandlungen und andererseits zu Diskussionen über mögliche Behandlungsfehler führt. Neben einer Aufklärung des Patienten und entsprechender Dokumentation wird die röntgenopake Maskierung der Läsion vor der Restauration, z. B. im Rahmen der Applikation des Adhäsivsystems, diskutiert. Das Verfahren ist jedoch noch nicht marktreif [50].
Zusammenfassung und Fazit
Basierend auf einem veränderten Verständnis der Erkrankung Karies, hat sich auch bei der Behandlung kariöser Läsionen ein Paradigmenwechsel vollzogen. Statt einer symptomatischen Entfernung der Läsion wird vielmehr mittels noninvasiver Strategien versucht, die Erkrankung kausal zu therapieren. Daneben werden mikroinvasive Maßnahmen (Versiegelung, Infiltration) eingesetzt, um Läsionen durch den Aufbau einer Diffusionsbarriere gegen Biofilmsäuren zu arretierten. Beide Strategien zielen auf die Verhinderung der Restaurationsspirale ab (Verhinderung oder Verzögerung der ersten invasiven/restaurativen Therapie). Für zahlreiche kavitierte, also nicht reinigungsfähige Läsionen sind noninvasive Strategien jedoch nur begrenzt wirksam, während eine Versiegelung mittels Kunststoffen nicht stabil genug scheint, um die eingebrochene Oberfläche langfristig wiederherzustellen. Im Milchgebiss wird daher heutzutage mittels Stahlkronen versiegelt (sog. Hall-Technik); auf bleibende Zähne kann dieses Prinzip jedoch nicht übertragen werden. Daher werden für viele kavitierte Läsionen auch weiterhin invasive Therapien angewendet werden müssen. Diese zielen auf die Wiederherstellung der Oberfläche durch die Platzierung von Restaurationen ab. Im Zusammenhang mit solchen restaurativen Maßnahmen wird traditionell kariöses Dentin exkaviert. Zahlreiche klassische Gründe für eine solche Exkavation (Bakterienentfernung, Schaffung einer retentiven Kavität, Entfernung demineralisierten Dentins) gelten jedoch nur noch sehr eingeschränkt. Der wichtigste Grund, warum vor einer Restauration kariöses Dentin entfernt werden muss, ist die Herstellung einer Kavität, die optimale Bedingungen für ein langfristiges Restaurationsüberleben bietet. Dabei sollte jedoch nur so viel kariöses Dentin wie nötig entfernt werden (demineralisiertes, aber bakterienfreies Dentin kann belassen werden). Bei tiefen Läsionen sollte zudem versucht werden, die Integrität der Pulpa zu erhalten. Dies sollte somit neben dem Restaurationsüberleben gerade hier hohen Stellenwert haben. In solchen Fällen ist es daher akzeptabel, auch weiches Dentin in Pulpennähe zurückzulassen. Etwaige zurückbleibende Bakterien werden durch die versiegelnde Restauration von ihrer Nahrungszufuhr abgeschnitten und sterben ab. In der peripheren Kavität sollte hingegen hartes Dentin verbleiben, das gute Haftung und Unterstützung für die Restauration bietet (selektive Exkavation). Eine große Zahl von Studien zeigt die Überlegenheit eines solchen individualisierten, biologischen Managements kariöser Läsionen gegenüber dem traditionellen Streben nach vollständiger Entfernung allen kariösen Gewebes. Zudem scheint gerade bei kleinflächigem Zurücklassen erweichten Dentins das Restaurationsüberleben nicht eingeschränkt.
Teile dieser Übersichtsarbeit wurden an eine im Englischen erschienene Arbeit des Autors angelehnt [1].
Weiterführende Links
> Zur Literaturliste ZMK (32)5 2016, S. 258–266
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