Parodontaltherapie – ein Update – Teil 1

Was ist veraltet, was ist altbewährt und was ist aktuell? Dieser Fragestellung zur Parodontaltherapie geht der
folgende Beitrag nach und ergänzt die theoretischen Grundlagen mit Konzepten für die Durchführung der Parodontaltherapie
in der Praxis sowie mit klinischen Fallbeispielen. Der Leser erfährt auch, welche Innovationen
therapeutischen Nutzen zeigen und welche eher kritisch zu sehen sind.
Neben der Karies gehören die parodontalen Erkrankungen zu den häufigsten Erkrankungen des Menschen überhaupt. Mundgesundheitsstudien kommen zu dem Ergebnis, dass 70 bis 80 % der Menschen in Deutschland von parodontalen Problemen betroffen sind. Immerhin 10–15 % der Bevölkerung leiden demnach unter einer schweren Form der Parodontitis an mindestens einem Zahn. Je nach Studie, verwendeten Messwerten und Indizes können diese Zahlen jedoch deutlich schwanken. Der in Deutschland belegte Rückgang an Kronenkaries führt unmittelbar zu längerem Zahnerhalt. Es ist daher davon auszugehen, dass mehr und mehr Zähne dem Risiko ausgesetzt sein werden, parodontale Probleme zu entwickeln. Epidemiologisch betrachtet ist mit einer zunehmenden Prävalenz parodontaler Erkrankungen zu rechnen. Die Bedeutung zielgerichteter und effektiver parodontaltherapeutischer Strategien wird daher auf absehbare Zeit weiter zunehmen.
Ätiologie parodontaler Erkrankungen
Um effektive und gleichzeitig minimalinvasive Konzepte für die Behandlung parodontaler Erkrankungen entwickeln und anwenden zu können, ist das möglichst umfassende Verständnis der Ätiologie dieser Erkrankungen von großem Wert. Je besser die Ursachen verstanden werden, desto zielgerichteter kann diagnostiziert und therapiert werden und desto besser ist abzuschätzen, welche neuen Materialien und Methoden zu potenziellen Verbesserungen der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen beitragen können.
Parodontale Erkrankungen entstehen auf der Basis mannigfaltiger Wechselwirkungen zwischen dem menschlichen Organismus und seinem Immunsystem auf der einen Seite sowie bestimmten Bakterien (und möglicherweise auch Viren) auf der anderen Seite (Abb. 1). Diese Wechselwirkungen werden sowohl von genetischen als auch von erworbenen und umweltbedingten Risikofaktoren stark beeinflusst. Das Ergebnis dieses sehr komplexen multifaktoriellen Geschehens sind die klinischen Zeichen parodontaler Erkrankung, mit denen sich uns der Patient präsentiert. Je mehr wir über die individuellen Risikofaktoren und die Dynamik des Erkrankungsprozesses des Patienten wissen, desto zielgerichteter und effektiver können wir therapieren.
Bakterien
Gingivitis und Parodontitis sind Infektionskrankheiten, bei denen sich keine Immunität gegen die Erkrankung und ihre Erreger einstellt. Es kann also im Gegensatz zu anderen Infektionen zu keiner Ausheilung der Erkrankung kommen. Nach heutigem Verständnis ist das Vorhandensein bestimmter gramnegativer anaerober Bakterien – Porphyromonas gingivalis (Pg), Tannerella forsythensis (Tf), Aggregatibacter actinomycetemcomitans (Aa), Treponema denticola (Td) und Prevotella intermedia (Pi) – unbedingte Voraussetzung für die Parodontitisentstehung. Dabei nimmt Porphyromonas Aufgingivalis (Pg) vermutlich eine Schlüsselstellung ein. Die Bakterien haben im Laufe der Zeit diverse Eigenschaften entwickelt, die ihnen das Überleben in der parodontalen Tasche erst ermöglichen. Neben der Schwächung der Immunabwehr hat die Fähigkeit der Invasion in subepitheliales Bindegewebe und sogar in körpereigene Zellen Konsequenzen für Diagnostik und Therapie (Abb. 2). So kann insbesondere Aggregatibacter actinomycetemcomitans (Aa) in mikrobiologischen Tests unterhalb der Nachweisgrenze liegen, während er sich gleichzeitig im parodontalen Gewebe in größerer Anzahl versteckt hält. Werden auf der Basis eines Aa-negativen Testergebnisses die anderen vier Keime, die im roten (Pg, Tf, Td) und orangen (Pi) Komplex zusammengefasst werden, erfolgreich mechanisch und ggf. antibiotisch (z. B. mit Metronidazol) reduziert, kann es zu einem Rezidiv durch das Überwuchern mit Aa kommen. Aufgrund seiner Gewebsinvasivität ist der Einsatz systemischer Antibiotika (z. B. Amoxicillin) bei Vorhandensein von Aa häufig notwendig. Sämtliche parodontopathogenen Bakterien zeichnet das Vorhandensein von Lipopolysacchariden (LPS, synonym: Endotoxin) als integraler Bestandteil ihrer Zellwand aus. Die Lipopolysaccharide können als Schlüsselstoff bei der Parodontitisentstehung gelten (s. Abb. 4). Die Bakterien organisieren sich im Bereich des Parodonts in einem komplex strukturierten Biofilm, innerhalb dessen unter anderem ein primitiver Stoffwechselkreislauf stattfindet. Der Biofilm ermöglicht es den Bakterien erst, in der feindlichen Umgebung der parodontalen Tasche zu überleben. In seinem Schutz widerstehen die Bakterien sowohl der Immunabwehr des Organismus als auch lokalen und systemischen antimikrobiellen Substanzen und Antibiotika. Die Zerstörung des Biofilms muss daher nach wie vor mechanisch erfolgen. Die früher praktizierte aggressive Entfernung des mutmaßlich mit Endotoxinen verseuchten Wurzelzementes durch Wurzelglättung ist dafür aber nicht notwendig. Vielmehr nimmt man dem Organismus Regenerationspotenzial durch zu invasives Root Planing.
Bei einer fortgeschrittenen Parodontitis kommt es aufgrund der immensen Menge an Bakterien bereits beim Kauen und Zähneputzen zu einer Bakteriämie. Die sich daraus ergebende chronische Belastung des Körpers mit den Parodontalkeimen und ihren Endotoxinen führt zu Auswirkungen auf den gesamten Organismus (u. a. Herz-Kreislauf-System, Komplikationen beim Diabetes mellitus). Für die Interpretation mikrobiologischer Tests ist des Weiteren zu berücksichtigen, dass es unterschiedliche Klone einer Bakterienspezies gibt, die sehr unterschiedlich pathogen sein können. Die verfügbaren kommerziellen Tests können dies nicht differenzieren. Ähnlich wie in der Kariologie werden auch Parodontalkeime bei engem Kontakt von Mensch zu Mensch übertragen. Wenn beide Partner von einer Parodontitis betroffen sind, aber nur einer davon in entsprechender Behandlung ist, kann dies zu erhöhter Rezidivgefahr beim in Behandlung stehenden Patienten führen. Idealerweise sollten daher beide Partner parallel untersucht und nötigenfalls behandelt werden.
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Abb. 2: Gewebsinvasion von Porphyromonas gingivalis (Lamont, Vasel et al., 1995) Literatur.
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Abb. 3: Abläufe bei einer Gingivitis.
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Abb. 4: Abläufe bei einer Parodontitis.
Gingivitis
Ein Biofilm im Bereich des Gingivasaumes löst eine Reaktion des Immunsystems aus (Abb. 3). Dabei verlassen große Mengen von polymorphkernigen neutrophilen Granulozyten (PMN) die lokalen Blutgefäße und wandern in Richtung Biofilm. Die PMNs versuchen den Biofilm zu beseitigen, scheitern jedoch an dessen Widerstandsfähigkeit (s. o.). Zugrunde gehende PMNs setzen eine Vielzahl bioaktiver Substanzen frei, die klinisch die typischen Entzündungszeichen einer Gingivitis zur Folge haben. Aufgrund der großen Anzahl neutrophiler Granulozyten gelingt es dem Organismus jedoch den Biofilm gegen das Körperinnere abzukapseln. Solange dieser Granulozytenwall mit Hilfe ständig nachströmender PMNs aufrechterhalten werden kann, verharrt der Infektions- und Entzündungsprozess im Stadium der reversiblen Gingivitis. Die professionelle Beseitigung des Biofilms führt zu einer Restitutio ad integrum.
Parodontitis
Sowohl genetische (z. B. Neutropenie) als auch andere Risikofaktoren (z. B. Rauchen oder Diabetes mellitus) können dazu führen, dass ein funktionierender Granulozytenwall entweder gar nicht erst aufgebaut oder aber insuffizient werden kann. In der Folge können parodontalpathogene Bakterien und insbesondere deren Lipopolysaccharide (Endotoxine) in größerer Menge in das parodontale Gewebe und damit das Körperinnere eindringen (Abb. 4). Dies wiederum löst eine Kaskade weiterer Prozesse innerhalb des Parodonts aus, mit denen der Organismus nun versucht, den betroffenen Zahn abzustoßen. Die Endotoxine stimulieren körpereigene Zellen (z. B. Makrophagen) dazu, weit über das normale Maß hinaus Kollagenasen zu produzieren, die den Faserapparat des Parodonts zerstören. Des Weiteren werden erhebliche Mengen bioaktiver Botenstoffe (TNF?, IL-1?, PGE2) ausgeschüttet, die die Osteoklasten aktivieren und die Osteoblastentätigkeit reduzieren. Die Folge ist ein irreversibler Attachmentverlust, also eine Parodontitis. Bei der Parodontitis handelt es sich demnach um einen durch Bakterien provozierten Selbstzerstörungsprozess des Körpers.
Genetische Risikofaktoren
Eine genetische Prädisposition für Parodontitis besteht zumeist aufgrund damit einhergehender negativer Einflüsse auf das Immunsystem. So ist bei der lokalen aggressiven Parodontitis häufig ein genetisch bedingter Funktionsdefekt der neutrophilen Granulozyten nachweisbar. Darüber hinaus sind Genvarianten beschrieben worden, welche Menge und Funktion des wichtigen Antikörpers IgG2 negativ beeinflussen und damit zu einer Schwächung der Immunabwehr führen. Andere Genvarianten führen zu erhöhter Produktion bioaktiver Botenstoffe (u. a. IL-1?, PGE2), welche die Knochenzerstörung stimulieren. So ist bekannt, dass das Allel 2 des IL-1b-Gens zu einer nahezu vierfach erhöhten Ausschüttung von IL-1? und damit einem rascheren Knochenverlust führen kann. Der so genannte Parodontitisrisikotest (PRT) beruht auf diesem Zusammenhang. Allerdings erhöht das Vorhandensein dieses Allels (Prävalenz in der Bevölkerung 25–30 %) per se nicht das Risiko für die Entstehung einer Parodontitis, sondern steigert die Wahrscheinlichkeit eines aggressiveren Verlaufes einer bereits eingetretenen Parodontitis.
Rauchen als Risikofaktor
Durch Rauchen kommt es zur Aufnahme vieler toxischer Substanzen in den Organismus. Als Folge kann es unter anderem zu Beeinträchtigungen der Immunabwehr (z. B. reduzierte Funktion neutrophiler Granulozyten), schlechterer Wundheilung und deutlich verminderter Effektivität parodontaltherapeutischer Maßnahmen kommen. So ist das Risiko für Knochenverlust bei starken Rauchern (ab 10–15 Zigaretten pro Tag) sieben- bis achtmal größer als bei Nichtrauchern. Laut einer Publikation von Haber et al. sind bei den 20- bis 40-Jährigen 30 bis 50 % der Parodontalerkrankungen hauptsächlich dem Rauchen geschuldet. Bei Patienten mit refraktärer Parodontitis handelt es sich sogar in 85 bis 90 % der Fälle um Raucher. Die Raucherentwöhnung ist damit unverzichtbarer Bestandteil vorbeugender und therapeutischer Maßnahmen.
Weitere Risikofaktoren
Diabetes mellitus führt zu erhöhter Parodontitisprävalenz. Dies kann unter anderem mit einer Funktionsstörung der PMNs, der erhöhten Ausschüttung entzündungsfördernder Botenstoffe und dem gestörten Bindegewebs- und Knochenmetabolismus zusammenhängen. Die optimale Einstellung des Diabetes sollte höchste Priorität haben, da dies zu einer deutlichen Risikoreduzierung führt. Faktoren und Umstände, die zur chronischen Belastung des Immunsystems führen, erhöhen ihrerseits das Risiko für parodontale Erkrankungen. Hierzu gehört neben Erkrankungen des Immunsystems (z. B. HIV) wahrscheinlich auch nicht kompensierter psychosozialer Stress. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich eine Stärkung des Immunsystems positiv auf die parodontale Situation auswirken sollte.
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Abb. 5: 52-jähriger Patient mit chronischer Parodontitis.
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Abb. 6a: Abb. 6a und b: 33-jähriger Patient mit aggressiver Parodontitis.
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Abb. 6b
Chronische Parodontitis (lokalisiert/generalisiert)
Von einer chronischen Parodontitis sind meist ältere Patienten ab dem 50. Lebensjahr betroffen (Abb. 5). Ursächlich ist häufig die Summation multipler Risikofaktoren wie Rauchen, chronischer belastender Stress, Diabetes mellitus, insuffiziente Restaurationen und schlechte Mundhygiene anzutreffen. Der Einfluss der genetischen Prädisposition ist eher als gering einzuschätzen. Der Knochenverlust hat überwiegend horizontalen Charakter, während vertikale Einbrüche eher die Ausnahme sind. Der Patient ist sich der Probleme häufig nicht wirklich bewusst, da er in der Regel keine Beschwerden hat und das Symptom Zahnfleischbluten gerne ignoriert wird. Den Patienten zu der erforderlichen Therapie zu motivieren, die umfangreich, eher unangenehm und mit Kosten verbunden ist, kann im Einzelfall schwierig sein.
Aggressive Parodontitis (lokalisiert/generalisiert)
Die häufig in Schüben rasch fortschreitende aggressive Parodontitis betrifft vielfach junge Patienten zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr (Abb. 6). Genetische Prädisposition, hochvirulente Erreger und Rauchen sind hier die Hauptrisikofaktoren. Der Knochenverlust ist meist deutlich ungleichmäßiger als bei der chronischen Parodontitis und zeigt fast immer multiple vertikale Defekte. Da sich die Patienten ihrer Probleme häufig bereits bewusst sind und sie Angst vor Zahnverlust haben, sollte die Motivation zur Mitarbeit leichter gelingen als bei Patienten mit chronischer Parodontitis. Die frühzeitige Entdeckung der Erkrankung und die konsequente Therapie sind für die Prognose der betroffenen Zähne entscheidend.
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Parodontaltherapie – ein Update – Teil 2