Schnuller Ja oder Nein?

Immer mehr Eltern von Kindern unter 3 Jahren besuchen eine Zahnarztpraxis, denn sie wissen, dass die zahnärztliche genauso wie die ärztliche Vorsorge früh und regelmäßig zu erfolgen hat. Neben der Mundpflege ihres Kindes stehen Fragen zum Ess- und Trinkverhalten, zum Stillen, zur Flaschennahrung und zum Thema Schnuller im Mittelpunkt des Interesses. Die Zahnarztpraxisteams sind daher gefordert, Eltern rund um den Schnuller kompetent zu informieren und bis zur Entwöhnung zu begleiten.
Welche Probleme verursachen Schnuller im Dauergebrauch?
Der unreflektierte Gebrauch von Beruhigungssaugern kann sich negativ auf den Körper des Kindes auswirken und provoziert Störungen im gesamten orofazialen System. Die häufigsten kieferorthopädischen Probleme sind der frontal offene Biss (Abb. 1c u. d; Abb. 2), der laterale Kreuzbiss (Abb. 3) und die Rücklage des Unterkiefers. Diese prophylaxe- und behandlungsbedürftigen Anomalien gehen mit einer eingeschränkten Abbeiß- und Kaufähigkeit des Kindes einher und können sich negativ auf die Sprechentwicklung und Sprachbildung auswirken. Außerdem verhindert der Schnuller häufig die Entwicklung einer physiologischen Zungenruhelage (Abb. 4) und eines funktionellen Kau-Schluckmusters. Die Zunge liegt nicht am Gaumen, denn der Schnuller drückt sie nach unten in den Unterkiefer (Abb. 5). Die Zunge kann weder in der Ruhe noch beim Schlucken ihren physiologischen Platz einnehmen. Dies geht häufig einher mit einer offenen Mundhaltung sowie Mundatmung. Durch Mundatmung wird jede einzelne Körperzelle mit etwa 40 % weniger Sauerstoff versorgt, wodurch Aktivität und Konzentration von Kindern am Tag deutlich eingeschränkt sein können. In der Nacht zeigt sich die Mundatmung als Schnarchen, infolgedessen die Kinder einen unruhigen Schlaf haben, unausgeschlafen aufwachen und morgens müde sind. Die lange Liste negativer Folgen für die kindliche Entwicklung durch den unreflektierten Gebrauch eines Beruhigungssaugers ist den jungen Eltern meist nicht bewusst. Eltern wollen, dass sich ihr Kind gesund und gut entwickelt, und nehmen daher ein Konzept zum richtigen Umgang mit dem Schnuller gerne an.
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Abb. 1: Korrelation von Bisslage und Aussehen bzw. Ausstrahlung. a: Physiognomie bei Eugnathie (Foto: Sabine Fuhlbrück) b: Neutralbiss (Foto Dr. Andrea Thumeyer) c: Physiognomie bei offenem Biss (Foto: Sabine Fuhlbrück) d: Frontal offener Biss und lateraler Kopfbiss im Milchgebiss (Foto: Dr. Jens Bock)
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Abb. 2: Offener Biss, der sich durch zu späte Schnuller-Entwöhnung auf das Wechselgebiss übertragen hat. (Foto: Dr. Stephanie Lingenfelder)
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Abb. 3: Lateraler Kreuzbiss nach Schnullergebrauch im Milchgebiss. (Foto: Dr. Stephanie Lingenfelder)
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Abb. 4: Die Abbildung zeigt die physiologische Zungenruhelage, aus der unter Zahnkontakt und beidseitiger Kontraktion des M. masseter geschluckt wird. Dabei hebt sich die Zunge gegen den Gaumen und formt den Zahnbogen gut aus – eine breite Nasenbasis und Nasenatmung sind die physiologischen Folgen. Die Kaumuskeln werden bei jedem Schlucken trainiert, sodass das Kind gut abbeißen und kauen kann. Es kann zudem klar und deutlich sprechen und sich richtig hören, wodurch die Sprachproduktion im Gehirn positiv unterstützt wird. (Abbildung: Mary Ann Bolten)
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Abb. 5: Die Abbildung zeigt die falsche Zungenruhelage durch den Schnuller. Beim Schlucken muss das Kind den Schaft des Schnullers mit einer Kraft von bis zu 500 Gramm zusammenbeißen, um okkludieren zu können. Im Dauergebrauch wirken bis zu 90 kg täglich auf die Zähne bzw. den Kieferknochen ein, wodurch die Zähne auffächern. Ein lutschoffener Biss im Milchgebiss kann sich auch auf die bleibenden Zähne übertragen: Denn liegt der dicke Gummischaft nicht mehr zwischen den Zähnen, ist es die Zunge. Dies hat zur Folge, dass die Zähne sich nicht mehr in ihre ursprüngliche Position zurück bewegen können und der lutschoffene Biss nicht spontan wieder ausheilen kann. (Abbildung: Dr. Andrea Thumeyer)
Warum nuckeln Babys?
Alle Neugeborenen haben ein angeborenes Saugbedürfnis. Dieses reflexartige Saugen dient der Nahrungsaufnahme (sichert das Überleben) und der Selbstregulation (Beruhigung, Lustgewinn). Trotzdem braucht zu Beginn des Lebens nicht jeder Säugling einen Schnuller. Viele der nach Bedarf gestillten oder mit der Flasche gefütterten Babys befriedigen ihr Saugbedürfnis über das Stillen an der Mutterbrust/Flasche, was gleichzeitig die Nahrungsaufnahme und Beruhigung durch körperliche Nähe zur Mutter beinhaltet. Meistens brauchen diese Babys gar keinen Schnuller, denn beide Bedürfnisse (Nahrungs- und Saugbedürfnis) werden befriedigt. Es gibt jedoch Babys, die ein darüber hinausgehendes Saugbedürfnis haben. Bei diesen kann der Gebrauch des Schnullers hilfreich und notwendig sein. In diesem Fall dient der Schnuller bereits frühzeitig als Übergangsobjekt (Definition siehe unten). Nach einer Umfrage der Zeitschrift ELTERN braucht ein Drittel aller Kinder gar keinen Schnuller, ein weiteres Drittel benutzt einen Schnuller ohne wirklich erkennbaren Vorteil und ein Drittel gehört zur letztgenannten Gruppe.
Vom Saugen zum Kauen zum Sprechen im ersten Lebensjahr
Das Saugbedürfnis sollte möglichst an der Brust befriedigt werden, weil hier die besten Bedingungen herrschen. Das gilt vor allem, wenn der Milchfluss nicht optimal ist, weil durch das Saugen die Milchbildung angeregt wird. Das Saugen an der Brust ist Voraussetzung für eine optimale Entwicklung der Abbeiß- und Kaufunktion sowie der Kiefergröße, Kieferform und Kieferrelation. Bei Flaschenernährung kann durch die Wahl einer Weithalsflasche und einem in Form und Textur möglichst brustartigen Ernährungssauger (LANSINOH, Lansinoh® NaturalWareTM Sauger) Ähnliches erreicht werden. Der Säugling sollte gut und kräftig an der Flasche saugen müssen und der Umgang mit der Flasche sollte der Stillsituation entsprechen (z. B. Körperkontakt, wechselseitiges Füttern). Das Nuckeln am Schnuller dagegen dient allein der Beruhigung. Um den Mundraum für die Zunge dabei möglichst wenig einzuengen, sollte dieser Beruhigungssauger möglichst flach und klein sein (siehe Kasten Schnullerkriterien Abb. 6 a und b). Etwa ab dem 4. Lebensmonat reduziert sich das Saugbedürfnis. Jetzt wächst das Bedürfnis, Dinge mit dem Mund zu entdecken. Dafür benötigt der Mund ein geeignetes Reizangebot. Das Essen von Stückchenkost mit den Fingern unterstützt die Reifung der Abbeiß- und Kaufunktion optimal.
Das Saugbedürfnis wird abgebaut und gegenläufig das Kaubedürfnis aufgebaut: Aus einem Säugling wird im zweiten Lebenshalbjahr ein Kauling. Deswegen haben Kinder, die gut kauen können, kein Saugbedürfnis mehr, sondern haben eine (schlechte) Angewohnheit, das Dauerschnullern, entwickelt. Mit wachsender sensomotorischer Reifung entwickelt sich beim Kind schließlich das Bedürfnis, sich mitzuteilen und soziale Kontakte aufzunehmen und auszubauen. Es erlernt das Sprechen. Jetzt stört bzw. behindert der Schnuller die physiologische kindliche Entwicklung.
Wichtige Punkte, die das Praxisteam bei der Beratung beachten muss
Vor der Beratung steht die Anamnese und Diagnose: Es gibt Kinder, die ganz viel schnullern und keine oder nur ansatzweise die genannten negativen Folgen zeigen. Erstens: Wo kein Problem ist, ist keine Lösung nötig. Und zweitens nehmen Eltern die Beratung nur dann an, wenn die negativen Folgen für sie sichtbar sind. Wo kein Problem ist, müssen Eltern nicht unter (Zeit-)Druck gesetzt werden. Die Entwöhnung funktioniert nur, wenn beide Eltern fest entschlossen sind, die Entwöhnung „durchzuziehen“. Denn oft müssen auch die Eltern sich selbst vom Schnuller entwöhnen. Deswegen muss das Praxisteam den Eltern den Rücken stärken, damit das Beenden dieser schlechten Angewohnheit gelingt. Das beinhaltet auch, dass die Eltern ihren Weg zur Entwöhnung finden. Dieser muss zu dem Erziehungsstil der Eltern passen. Nicht gefragt ist, was einem selbst gefällt.
Fazit
Etwa 80 % der offenen Bisse, lateralen Kreuzbisse und Unterkieferrücklagen sind Folgen des Dauernuckelns und Dauerschnullerns, also Folgen des Fehlverhaltens von Eltern. Eltern früh primärpräventiv zu beraten und bis zum Beenden der schlechten Angewohnheiten zu begleiten, lohnt sich, denn bleiben die Milchzähne gesund und stehen sie richtig, erübrigt sich in vielen Fällen eine kieferorthopädische Behandlung im bleibenden Gebiss. Die Beratung für einen intelligenten, d. h. verantwortungsbewussten Umgang mit dem Schnuller ist Teil der kieferorthopädischen Prophylaxe, die jede prophylaxeorientierte Zahnarztpraxis Eltern von Klein- und Kindergartenkinder anbieten können sollte.
Die Postkarte „Schnullerfee“ kann per Mail an info(at)royalx.de bestellt werden. Das FAX-Bestellformular „U3-Faltblätter“ ist auf der Homepage http://www.jugendzahnpflege.hzn.de im Ordner „Aktuelles“ eingestellt.
Gebrauchsinformation für Eltern zum Thema Schnuller
Braucht mein Baby einen Schnuller?
Nicht jedes Baby braucht einen Schnuller. Entscheiden Sie gemeinsam mit Ihrer Hebamme oder Ihrem Kinderarzt, ob für Ihr Baby der Schnuller ein sinnvolles Hilfsmittel ist. Drängen Sie den Schnuller nicht auf, wenn Ihr Baby ihn verweigert oder ausspuckt.
Welcher Schnuller richtet den geringsten Schaden an?
Der Schaft des Schnullers sollte dünn sein, damit der Zusammenbiss möglichst wenig gesperrt wird und die Schneidezähne nicht am Wachsen gehindert werden, wodurch sich in der Folge ein offener Biss entwickelt (Positivbeispiele Dentistar, MAM perfect). Die beim Dentistar eingearbeitete Dentalstufe ermöglicht eine maximale Annäherung der Ober- und Unterkieferfrontzähne. Das Lutschteil sollte klein und raumsparend sein, damit die Zunge möglichst wenig in ihrer Funktion eingeschränkt wird. Eine möglichst flache, quer-ovale Form nimmt der Zunge am wenigsten Raum. Ein nach oben abgewinkeltes Lutschteil wie beim Dentistar führt die Zunge zumindest im hinteren Mundraum nach oben. Zu enge oder kleine Oberkiefer entstehen meist schon sehr früh (bis zum 18. Lebensmonat), wenn das Lutschteil den Gaumen regelmäßig über viele Stunden füllt und dadurch die Zunge in den Unterkiefer abdrängt. Das Lutschteil muss flexibel und beweglich sein. Schnuller aus Latex sind weicher als Schnuller aus Silikon. Der Schnuller muss zudem leicht sein. Ein schwerer Schnuller überfordert die Lippen- und Zungenmuskulatur. Eine Kette zum Halten des Schnullers erhöht das Gewicht. Der Schnuller muss nicht mitwachsen, denn der kindliche Kiefer wird von Geburt bis ins Wechselgebiss nur 1,5 mm breiter. Das Kieferwachstum findet in der Länge statt: Jeder hinzukommende Zahn verlängert den Kiefer nach hinten. Deswegen bleiben Sie immer bei der kleinsten Schnullergröße. Das erleichtert auch das rechtzeitige Abgewöhnen. Der Dentistar 1 (ohne Zähne), 2 (mit Frontzähnen) und 3 (mit Seitenzähnen) ist genau diesem Wachstum angepasst. „Schnullerdreher“ benötigen symmetrische Schnuller mit den oben genannten Kriterien, hier ist der Dentistar kontraproduktiv.
Was müssen wir bei der Anwendung beachten?
Bieten Sie den Schnuller erst nach der 4. bis 6. Lebenswoche an, um Stillprobleme zu vermeiden. Setzen Sie den Schnuller wie ein Medikament gezielt und nur kurzfristig ein: so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Stellen Sie sich bei jedem Gebrauch folgende Fragen: Ist in dieser Situation der Schnuller das richtige Mittel? Welche Bedürfnisse hat mein Baby? Ist es z. B. müde, hat es Durst, Hunger, Furcht, Langeweile oder Blähungen?
Bieten Sie Alternativen an: Beschäftigung, Körperkontakt, Kuscheltier. Erst wenn Zeit, Zärtlichkeit und Zuwendung erfüllt sind und das Kind trotzdem nicht zur Ruhe kommt, braucht es einen Schnuller. Wie lange braucht mein Kind in der momentanen Situation den Schnuller? Ziehen Sie den Schnuller nach dem Einschlafen heraus. Beim Sprechen, Spielen oder Spazierengehen braucht es keinen Schnuller; er stört sogar die Kommunikation und Wahrnehmung und kann damit die kindliche Entwicklung behindern. Hat der Schnuller mögliche Nebenwirkungen auf Sprachentwicklung und Zähne? Achten Sie auf regelmäßige Zahnarztbesuche ab dem ersten Zahn. Fragen Sie Ihren Zahnarzt, ob bei Ihrem Kind Zahn- und Kieferfehlstellungen vorhanden sind.
Wann und wie sollen wir den Schnuller absetzen bzw. entwöhnen?
Der Schnuller wird abgesetzt, sobald das Kind anfängt, zu sprechen und zu kauen, spätestens jedoch rund um den 2. Geburtstag. Andernfalls besteht die Gefahr, dass aus der falschen Ruhelage, in die die Zunge durch den Schnuller gezwungen wird, und dem unphysiologischen Schluckverhalten stabile Muster werden, die nur durch aufwendige Therapie (kieferorthopädische, logopädische und physiotherapeutische Therapie in Kombination) überwunden werden können. Untersuchungen von Dr. Klaus Dürr zeigen, dass 95 % aller offenen Bisse oder seitlichen Kreuzbisse spontan – meist innerhalb weniger Wochen – ausheilen, wenn dieser Zeitpunkt eingehalten wird bzw. wenn das Zeitfenster der Entwicklung noch offen ist. Diese Chance sollten Sie als Eltern nutzen, denn dann hat der intelligente Gebrauch des Schnullers keinen langfristigen Schaden bei Ihrem Kind hinterlassen.
Konkrete Tipps sind:
- Der Schnullerbedarf reduziert sich von ganz allein, wenn die anderen Bedürfnisse beachtet und gefördert werden.
- Der Abbau des Saugbedürfnisses erfolgt gegenläufig zum Aufbau des Kauens. Lassen Sie ihr Kind häufig kauen. Mit jedem Stückchen Brot, Obst usw. lernt Ihr Kind zudem die Vielfalt an Form, Geschmack, Geruch und Konsistenz in seinem Mund kennen: Kinder erfahren die Welt über ihren Mund.
- Lassen Sie Schnuller nicht sichtbar herumliegen und verringern Sie die Anzahl der Schnuller.
- Geben Sie den Schnuller nur noch, wenn Ihr Kind ausdrücklich danach verlangt.
Welchen Grund gibt es für mein Kind, den Schnuller abzugeben?
Für Ihr Kind gibt es nur eine Motivation: Es will wachsen und groß werden.
- Suchen Sie sich Unterstützung bei der Schnullerentwöhnung (z. B. Familie, Freunde, Erzieherinnen, Zahnarzt oder Kinderarzt).
- Der erste Versuch „der Entsorgung“ sollte gelingen. Misslingt er aus Mangel an Konsequenz, ist der zweite Versuch doppelt so schwierig. Lieber warten, wenn Sie als Eltern noch unsicher sind, ob der jetzige Zeitpunkt der richtige ist.
Tipps zum „Entsorgen“:
Der Schnuller wird an einen Schnullerbaum gehängt, verschenkt oder verschickt. Die Schnullerfee holt alle Schnuller ab und schenkt dem Kind dafür z. B. ein Kuscheltier (Tipp: siehe oben Postkarte „Schnullerfee“).
Ist der Tausch des Schnullers gegen ein Kuscheltier pädagogisch in Ordnung?
Ja, und sogar notwendig. Der Begriff „Übergangsobjekt“ aus der Entwicklungspsychologie bezeichnet einen unbelebten Gegenstand, der als Bindungsersatz dient. Das Kind überträgt die Eigenschaften der Mutter auf das Übergangsobjekt. Wenn der Schnuller als Übergangsobjekt gedient hat, hinterlässt er beim Entwöhnen ein Vakuum, das gefüllt werden muss. Das Kind wählt dann selbst ein Übergangsobjekt aus. Das kann ein Gegenstand sein oder etwas Abstraktes (z. B. ein zusätzliches Gute-Nacht- Ritual wie Musik, eine zusätzliche Gute-Nacht-Geschichte, Worte oder imaginäre Märchenfiguren). Die meisten Kinder wünschen sich ein Kuscheltier.
Weitere hilfreiche Tipps, schöne Geschichten und Kinderbücher zur Schnullerentsorgung finden Sie auf www.jugendzahnpflege.hzn.de im Ordner 0-3-Jährige.