Prävention ab dem ersten Zahn

Die Früherkennung und Frühbehandlung von kariösen Läsionen sind heutzutage Schwerpunkte der Kinderzahnheilkunde. Daher sollte eine genaue Identifizierung der Kariesrisikofaktoren beim Kleinkind durchgeführt werden – und in Folge eine risikospezifische Kariesprävention ab dem ersten Zahn. Vier Aspekte sollte die zahnärztliche Prophylaxe beinhalten: Aufklärung einschließlich der Motivation der Eltern und später auch des Kindes, Zahnpflege mit Mundhygieneempfehlungen und -training für die Eltern von Kleinkindern, Fluoridnutzung und Ernährungslenkung. Der folgende Beitrag beschäftigt sich daher mit evidenzbasierten Möglichkeiten der Kariesprävention in der ersten Dentition.
Die Zahnmedizin kann auf eine Erfolgsgeschichte in der Kariesprävention zurückblicken. Die Aufklärung der Erkrankungsursachen und eine evidenzbasierte Prävention gingen mit einem deutlichen Kariesrückgang in der permanten Dentition einher. So konnte die Kariesprävalenz bei 12-Jährigen in den vergangenen 30 Jahren um ca. 80 bis 90 % von durchschnittlich über 6 kariösen, gefüllten und wegen Karies extrahierten Zähnen auf derzeit weniger als einen Zahn reduziert werden. Im Milchgebiss fielen die Kariesreduktionen um ca. 50 % von durchschnittlich fast 4 auf knapp 2 Zähne erheblich geringer aus [1,2].
Frühe Kariesprävention
Ein Schwerpunkt der Kinderzahnheilkunde liegt heute in der Früherkennung und Frühbehandlung von Karies und Störungen der Zahn- und Kieferentwicklung. Hierzu wird u. a. ein zahnärztlicher Kinderpass genutzt, der bei Geburtshelfern und in Entbindungsstationen ausgegeben wird. In diesem Pass werden der zahnärztliche Gebissbefund, Mundschleimhautveränderungen, Ernährungs- und Mundhygienegewohnheiten, Fluoridnutzung und Lutschgewohnheiten registiert (Abb. 1). Er ist ein wichtiges Werkzeug zur Verhütung insbesondere der frühkindlichen Karies. Diese früh auftretende Nuckel- oder Saugerflaschenkaries, mit einer Prävalenz von ca. 10 bis 15 %, hat im Unterschied zur Karies der permanenten Dentition in jüngster Zeit an Häufigkeit eher zugenommen [3,4]. Sie ist aufgrund der Anzahl der betroffenen Zähne, des Schweregrades der Zerstörung, des geringen Alters der Kinder und der daraus resultierenden geringen Kooperationsfähigkeit das größte kinderzahnheilkundliche Problem (Abb. 2), das oft nur durch eine zahnärztliche Sanierung in Narkose gelöst werden kann. Schmelz- oder Dentinbildungsstörungen sind demgegenüber vergleichsweise seltener.
Kariesätiologie und -diagnostik
Die frühere Auffassung, dass Karies das „Loch“ im Zahn ist und mit einer Füllung therapiert wird, ist überholt. Karies ist ein chronisches Ungleichgewicht zwischen demineralisierenden und remineralisierenden Faktoren (Abb. 2). Die Demineralisation erfolgt durch organische Säuren, die in der Mundhöhle durch bakterielle Verstoffwechselung aus insbesondere kurzkettigen Kohlenhydraten entstehen [5]. Diese und andere ätiopathogenetische Faktoren lassen sich diagnostisch, präventiv und therapeutisch nutzen.
Initial müssen die oben genannten Parameter in einer Anamnese zu Mundhygiene, Ernährungsgewohnheiten, insbesondere der Aufnahme von Süßigkeiten und zuckerhaltigen Getränken, Lutsch- und Nuckelverhalten, Fluoridnutzung abgefragt werden.
Die Untersuchung der Zähne beinhaltet einen Plaque- und einen Gingiva-Index, die über den vorhandenen Zahnbelag und die gingivale Blutung/Entzündung die Qualität der Mundhygiene dokumentieren. Weiterhin werden die vorhandenen Zähne, kariöse Initialläsionen und Defekte, bisherige Füllungen und fehlende Zähne erfasst. Zahnfehlstellungen und Dysgnathien sind mit dem vollständigen Milchgebiss und vor allem im jugendlich permanenten Gebiss von Bedeutung.
Kariesprävention
Die zahnärztliche Prophylaxe hat vier Ansatzpunkte: Aufklärung, Zahnpflege, Fluoridnutzung und Ernährungslenkung. Idealerweise sollte sie schon in der Schwangerschaft beginnen [6], weil
- durch die hormonellen Umstellungen eine Schwangerschaftsgingivitis begünstigt wird,
- es Hinweise auf eine Interaktion von parodontalen Erkrankungen, Entzündungen und der Entwicklung des Feten bzw. Frühgeburten gibt,
- das Übertragungsrisiko der Kariesbakterien von der Mutter auf das Kind von deren Mundhygiene und Bakterienzahlen abhängt,
- die frühe Keimübertragung (Streptococcus mutans, S. sobrinus) zu frühen kariösen Läsionen an Milchzähnen führt,
- jüngst auch in Deutschland ein Ansteigen der Anzahl von Kindern mit früher Milchzahnkaries (Nuckelflaschenkaries) zu beobachten ist.
Hervorzuheben ist die ausgesprochen hohe Motivation für Verhaltensänderungen in der Schwangerschaft, die für die zahnmedizinische Prävention genutzt werden sollte, bevor die Mutter nach der Geburt völlig von der Präsenz des Kindes absorbiert wird. Die Beratung der Schwangeren ist identisch mit den Informationen zur Prävention bei Säuglingen und Kleinkindern, die im Folgenden dargestellt werden. Lediglich die Untersuchung und Mundhygieneübungen am Kind können verständlicherweise noch nicht durchgeführt werden. Um dies an einem Termin nach Durchbruch der ersten Zähne bei einem 8 bis 9 Monate alten Kind nachzuholen, empfiehlt sich die Ausgabe des zahnmedizinischen Untersuchungsheftes.
Ernährungslenkung
Obwohl Karies durch die Vergärung von Kohlenhydraten, insbesondere von Zuckern, bedingt ist, sind die Korrelationen zwischen Zuckerkonsum und Karies schwach [7]. Außerdem ist die Ernährungslenkung ausgesprochen schwierig. Bei der Flaschenkaries ist allerdings eine Ernährungsanamnese notwendig, um die schädliche Ernährungsgewohnheit aufzudecken und zu motivieren, dieses Fehlverhalten abzustellen. Folgende Punkte sind bei der Ernährungslenkung zu beachten:
- Keine nächtliche Gabe der Nuckelflasche bei gesunden Kindern, ggf. ungesüßter Tee, Wasser oder reine Milch.
- Keine Dauernuckelflasche; die Flasche ist kein Beruhigungsinstrument, frühzeitiger Übergang zum Trinken aus der Tasse sollte angeregt werden.
- Obstsäfte (auch nicht verdünnt), gesüßte Tees oder andere süße Getränke nicht zwischendurch als Durstlöscher (Flüssigkeitszufuhr) oder über den Tag verteilt anbieten, sondern nur zu den Hauptmahlzeiten.
Mundhygiene
Orale Gesundheit ist ohne tägliche Plaqueentfernung unmöglich, da sowohl Karies als auch Gingivitis/Parodontopathien plaquebedingt sind, also aus der mikrobiellen Aktivität des Biofilms auf den Zahnoberflächen resultieren. Mundhygieneempfehlungen und -training für Eltern von Kleinkindern sind in Deutschland allerdings noch deutlich unterentwickelt, was die hohe Kariesrate im Milchgebiss erklärt. Die Mundhygiene vom ersten Zahn an (6.–8. Lebensmonat) entscheidet, ob Kleinkinder Karies entwickeln oder nicht [8,9]. Manuell sind Kinder allerdings bis zur Einschulung nicht in der Lage, eine qualitativ relevante Mundhygiene zu betreiben, sodass (Nach-)Putzen durch die Eltern unabdingbar ist [10]. Sinnvollerweise wird bei Säuglingen im Liegen geputzt. Aber auch später ermöglicht die liegende Position einen besseren Zugang zu allen Zähnen und eine ruhigere Atmosphäre (Abb. 3a). Bei Säuglingen ist das Training der Eltern in der Praxis essenziell, da aufgrund des Saugreflexes das Abhalten der Lippen eingeübt werden muss (Abb. 3b). Es sollte eine Kleinkindzahnbürste verwendet werden, Mullläppchen oder Wattestäbchen sind antiquiert. Die Zahnbürste wird mit den Borsten leicht schräg zum Zahnfleischsaum hin angesetzt und dann auf der Stelle gerüttelt; die Zähne sollten nicht nur auf den Kauflächen, sondern auch von vestibulär und oral gereinigt werden, und zwar nach der KAI-Systematik (Kau-, Außen- und Innenflächen).
Fluoridnutzung
Die Frage der Fluoridnutzung oder, besser gesagt, die Applikationsform wird zum Teil kontrovers diskutiert. Fluoride spielen im Prozess der Kariesätiologie primär keine Rolle. Sie können allerdings als Therapeutikum eingesetzt werden, um während der Einwirkzeit von Säuren die Demineralisation zu reduzieren und danach die Remineralisation von Initialläsionen zu verstärken [11]. Der deutliche Kariesrückgang in der permanenten Dentition wird im Wesentlichen mit der verstärkten Fluoridnutzung erklärt [12]. Dabei ist die Einteilung in systemische und lokale Fluoride veraltet, da auch „systemische“ Fluoride, wie Tablette, Wasser oder Salz, bei der oralen Aufnahme an den Zähnen lokal wirken. Lokal applizierte Fluoride wie Zahnpaste verbleiben teilweise in der Mundhöhle, werden verschluckt, resorbiert systemisch wirksam. Wissenschaftlich ist eindeutig geklärt, dass für die Kariesentwicklung die lokale Fluoridkonzentration in der Plaque und an der Zahnoberfläche jeden Tag im Zusammenspiel mit dem pH-Wert und den anderen Ca-/Phosphatkonzentrationen entscheidend ist [13,14]. Daher ist die kontinuierliche, optimale Fluoridnutzung zur erfolgreichen Kariesprävention essentiell und dies kann am besten über regelmäßiges Zähneputzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta gewährleistet werden. Hierbei findet gleichzeitig eine signifikante Plaquereduktion statt [15].
Bei Kleinkindern müssen allerdings Dosierungsempfehlungen eingehalten werden, um ein Verschlucken von größeren Mengen Zahnpasta und damit verbundene systemische Nebenwirkungen zu vermeiden: Die deutschen Empfehlungen sehen zurzeit vor, dass vom ersten Zahn an nur einmal am Tag mit einer erbsengroßen Menge Kinderzahnpasta (500 ppm) geputzt werden sollte, ab dem zweiten Geburtstag zweimal, wobei die Menge von den Eltern kontrolliert wird [16]. Die Fluoridaufnahme beträgt dann nur ca. 0,02 mg F/kg Körpergewicht, was auch zusammen mit den Fluoridmengen aus Salz noch deutlich unter den Werten für ein Fluoroserisiko liegt, das bei 0,05 bis 0,07 mg F/kg beginnt. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin bezeichnet sogar eine tägliche Zufuhr von 0,05 mg pro kg Körpergewicht als wünschenswert [17]. Angesichts des mäßigen Kariesrückganges im Milchgebiss in Deutschland sollte die Dosierung von 500 ppm für Kinderzahnpaste kritisch hinterfragt werden. Im Vergleich: Die Europäische Akademie für Kinderzahnheilkunde empfiehlt ab 2 Jahren Zahnpasten mit 1000+ ppm [18]. Außerdem finden sich in etlichen europäischen Ländern kaum fluoridreduzierte Kinderzahnpasten auf dem Markt, sondern die Zahnpasta wird bei kleinen Kindern einfach in geringeren Mengen angewendet.
Organisationsrahmen
Der Grund für den bisherigen Kariesrückgang liegt vor allem in der Fluoridnutzung [19], insbesondere in der häuslichen, täglichen Anwendung fluoridhaltiger Zahnpasten. Es ist zu vermuten, dass bei der Mehrzahl der Klein- und Kindergartenkinder genau dieses regelmäßige, wirksame Zähneputzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta nicht stattfindet.
Sowohl die Beratung zum häuslichen Zähneputzen als auch die professionellen Fluoridapplikationen können in der zahnärztlichen Gruppen- und Individualprophylaxe umgesetzt werden, wie die Erfahrungen im bleibenden Gebiss eindrucksvoll belegen. Für Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status und daher erhöhtem Kariesrisiko, deren Eltern den Zahnarzt erst zu spät wegen Karies aufsuchen, sind zusätzliche Programme zur Intensivprophylaxe mit täglichem Zähneputzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta in der Krippe bzw. im Kindergarten sowie eine Frequenz von 4 bis 6 Impulsen pro Jahr anzustreben [16]. Allerdings wird die Betreuungsquote und damit die Erreichbarkeit über die Kinderkrippe in Deutschland für einen alleinigen gruppenprophylaktischen Ansatz auf absehbare Zeit nicht ausreichen. Außerdem ist der Fluorideinsatz mit ca. 17 % in der Gruppenprophylaxe eher unbefriedigend [20].
Ein Vorziehen der Frühprophylaxe (FU) in der zahnärztlichen Praxis von 2½ Jahren auf den Durchbruch des ersten Milchzahnes (6–8 Monate) wäre daher ebenfalls sinnvoll. So könnte das Erfolgskonzept einer Kombination von Gruppen- und Individualprophylaxe vom bleibenden Gebiss auf das Milchgebiss übertragen werden, was angesichts der Schwierigkeiten bei der Erreichbarkeit von Kleinkindern günstig wäre. Beide Systeme sollten allerdings qualitätskontrolliert werden, um die Umsetzung der evidenzbasierten Maßnahmen sicherzustellen.
Fazit
Als Fazit lässt sich damit eindeutig feststellen, dass wir für die noch nicht zufriedenstellenden Karieswerte im Milchgebiss kein Erkenntnisproblem bezüglich wirksamer Maßnahmen zur Kariesprävention haben, sondern lediglich ein Umsetzungsproblem. Daher sollten zügig auch für Kleinkinder die Strukturen für eine zahnärztliche Gruppen- und Individualprophylaxe geschaffen werden, welche die vorliegenden, evidenzbasierten Präventionsmaßnahmen konsequent umsetzen.
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.