Bei der Behandlung von skelettalen Malokklusionen wird insbesondere die Frage nach dem geeigneten Zeitpunkt und nach der Art der therapeutischen Intervention seit vielen Jahren kontrovers diskutiert. Oft zeigen diese Fehlbisslagen in sehr frühen Entwicklungsstadien (frühes und mittleres Wechselgebiss) bereits vorhandene funktionelle Kompensationen/Dekompensationen in Bezug auf Anzeichen und Symptome von temporomandibulären Dysfunktionen (TMD) [1–4].
Die gezielte Kontrolle/Beherrschung der Okklusionsebene(n) markiert den Schlüsselpunkt für eine erfolgreiche kausale Behandlung einer dysfunktionellen Malokklusion und ist für die essenziell wichtige Festlegung einer therapeutischen Referenzposition der Kondylen/des Unterkiefers erforderlich, um die Strukturen der Kiefergelenke zu entlasten und um funktionell bedingten Anzeichen und Symptomen einer etwaigen temporomandibulären Dysfunktion frühzeitig entgegenzuwirken [5].
Seit Mitte des letzten Jahrhunderts wenden Zahnärzte und Kieferorthopäden die Prinzipien der funktionellen Kieferorthopädie an, um in das Wachstum und die Entwicklung des kraniomandibulären Komplexes einzugreifen und um dentoalveoläre und/oder skelettale Diskrepanzen zu korrigieren. Nach aktuell gültigen kieferorthopädischen Entwicklungstheorien findet das Skelettwachstum des maxillofazialen Komplexes von Homo sapiens sapiens innerhalb einer genetischen Matrix in bestimmten Wachstumszentren/regionen statt. Sekundäres, suturales Wachstum determiniert die räumliche Position des Oberkiefers und der Oberkieferdentition im menschlichen Schädel.
Die Wachstumsrichtung eines neutral wachsenden Schädels ist überwiegend vertikal und anterior gerichtet. Die Wachstumszentren sorgen für einen Wachstumsdruck, der durch Rotation der flexiblen Schädelknochen sowie durch Flexions- und Extensionsbewegungen auf den nasomaxillären Komplex nach anterior und kaudal gerichtet ist (Abb.1) [8,10–23].
Die primär muskulär bedingte (positionelle) Anpassung des Unterkiefers an den sich kontinuierlich dreidimensional verändernden nasomaxillären Komplex (Oberkiefer und Oberkieferdentition) (Abb. 2a und b) und die eruptierende Unterkieferdentition (Abb. 3a) führen zu einer „Wachstums-Induktion“ in den Wachstumszonen des Unterkiefers im Kondylenbereich (Abb. 3b). Die Temporomandibulargelenke (TMJs) und ihre dreidimensionale räumliche Position innerhalb der Fossa glenoidalis sind die Schlüsselparameter ungestörter Funktionen und Entwicklung (Abb. 3c), nicht nur der des mastikatorischen Systems, sondern auch gleichzeitig als Rezeptor und Modulator der gesamten Körperhaltung [23–32].
Kraniomandibuläres System, neuromuskuläres System und okklusales Führungssystem
Der physiologische funktionelle Gelenkraum des Kiefergelenks ist sehr gering (Abb. 4a und b). Jede Abweichung und/oder Auslenkung auf Gelenkniveau von 0,6 bis 0,8 mm [30] oder größer in jede Raumrichtung (kranial, dorsal oder transversal) erzeugt eine funktionelle (Über-)Belastung der anatomischen Komponenten der Gelenke (bilaminäre Zone, Discus artikularis, Ligamenta, knöcherne Strukturen) [33–37] und führt zu einer neuromuskulären Vermeidungsreaktion (funktionelle Kompensation) innerhalb des Kauorgans [38] und der Puffersysteme der benachbarten Organsysteme (Kopfhaltung, Halswirbelsäule, Schultergürtel, Wirbelsäule etc.) [38,39].
Ebenso wird eine physiologische Position der Kiefergelenke durch die statische und dynamische Okklusion dominiert und gesichert [40]. Dieses verhindert muskuläre Hyperaktivität durch gleichmäßige Verteilung der Kräfte der mastikatorischen und assoziierten Muskulatur.
Das okklusale Kontakt- und Führungsschema, das die räumliche Lage der unterschiedlichen Okklusionsebenen umfasst, spielt eine sehr wichtige Rolle bei dieser Aufgabe [41]. Es ist offensichtlich, dass eine sequenziell geführte Okklusion mit Eckzahndominanz zur Disklusion der posterioren Region führt und protrusive, laterotrusive und mediotrusive funktionelle Interferenzen im Prämolaren- und Molarenbereich nicht entstehen lässt und somit bestens geeignet scheint für die Bereitstellung interferenzfreier Funktion. Abweichungen von diesem okklusalen Schema – hinsichtlich sogenannter Zahnfehlstellungen oder okklusal dominierter Fehlfunktionen – können häufig schmerzhafte Symptome in Form einer temporomandibulären Dysfunktion entwickeln [42,43], die wiederum einen negativen Einfluss auf die skelettale Entwicklung des stomatognathen Systems haben werden [17–19].
Diagnostischer Ansatz
Um eine präzise Diagnose und einen optimalen Behandlungsplan zu erhalten sowie eine maßgeschneiderte Therapie für jeden Patienten zu entwickeln, müssen möglichst alle relevanten funktionellen Informationen des einzelnen Patienten durch ein maximal standardisiertes Diagnosekonzept erfasst werden [44].
Dieses Konzept umfasst nicht nur eine gründliche medizinische und zahnmedizinische Anamnese, eine standardisierte klinische Funktionsanalyse, individuell im Artikulator montierte Präzisionsmodelle in Referenzposition [44] inklusive Modell- und Artikulatoranalyse der statischen und dynamischen Okklusion sowie eine kephalometrische Analyse und Auswertung, sondern auch präzise und reproduzierbare kinematische Messungen/Aufzeichnung der dreidimensionalen kondylären Bewegungsbahnen des Unterkiefers [45]. So ist es möglich, in Echtzeit die Bewegungen des Unterkiefers zu ermitteln und diese Aufzeichnungen mit der statischen und dynamischen Okklusion zu synchronisieren und patientenindividuell (im Artikulator) zu simulieren [46].
Beispielhafte Falldarstellung und therapeutischer Ansatz
Am Beispiel eines 9-jährigen Klasse-II-Patienten im mittleren Wechselgebiss soll die Noncompliance-Behandlung mittels okklusaler funktioneller Positionierungselemente (FPOs) illustriert werden [6,7]. Bei dem Patienten liegt eine hypodivergente skelettale Klasse II bei skelettalem und dentalem Tiefbiss (Overbite Depth Indicator [ODI]: 64,8° [Normwert: 71,95°], FH-MP: 16° [Normwert: 25,9°]) und einem Overbite von 6 mm vor. Der Patient zeigt eine ausgeprägte Unterkiefer-Rückbisslage (Anterior Posterior Dysplasia Index [APDI]: 74,4° [Normwert: 81°]), einen Overjet von 8 mm und beidseits eine dentale Klasse-II-Verzahnung im Molarenbereich von einer Prämolarenbreite (Abb. 5a bis j).
Therapeutisches Prinzip
Der therapeutische Ansatz versucht, das natürliche Wachstumsprinzip des menschlischen Untergesichts zu „imitieren“ (Abb. 3c). Hierbei wird durch „Odontoplastiken“ (indirekt oder direkt) der noch in situ befindlichen Milchmolaren eine Erhöhung der vertikalen Dimension der Okklusion (VDO) und eine anteriore Adaptation der Mandibula durch präzise okklusale Kontaktund Führungsflächen induziert (Abb. 6 a und b). Hierdurch werden Ober- und Unterkiefer-6-Jahr-Molaren aus der dentalen Klasse II „disokkludiert“ und in Klasse-I-Verzahnung einander gegenüber positioniert und ein physiologischer Overbite/Overjet wird eingestellt (Abb. 6a und b).
Praktische Umsetzung
Ein Wax-up simuliert die Odontoplastik oberer und unterer Milchmolaren, um eine dentale Klasse-I-Verzahnung ähnlich der Verzahnung natürlicher 6-Jahr-Molar-Okklusionen herzustellen. Der Unterkiefer wird so in eine stabile vertikale Okklusion und eine stabile anteriore Bisslage eingestellt. Ober- und Unterkiefer- 6-Jahr-Molaren werden aus der dentalen Klasse II „disokkludiert“ durch Erhöhung der vertikalen Dimension und in Klasse-I-Verzahnung einander gegenüber positioniert und ein physiologischer Overbite/Overjet wird eingestellt (Abb. 7a und b).
Es okkludiert der veränderte distobukkale Höcker (rot) des unteren Milchmolaren in die zentrale Fossa (rot) des oberen (veränderten) 1. Milchmolaren. Die Christa transversa (gelb) des oberen Milchmolaren fungiert hier analog einer dentalen Klasse-I-Verzahnung als protrusive und retrusive Führung im Sinne einer „Positions-Kontrollhilfe“ für den gesamten Unterkiefer, da durch die Odontoplastiken ein höchst stabiler doppelter Tripodismus geschaffen wird. Die mesiale Randleiste (grün) des oberen Milchmolaren übernimmt die Funktion der laterotrusiven Führung für exzentrische Kieferbewegungen (Abb. 8a bis d).
In diesem exemplarischen Behandlungsfall, der aus dem Jahr 2001/2002 stammt, wurden die okklusalen Positionierungselemente nach dem Wax-up aus gegossenem Metall hergestellt und volladhäsiv inkorporiert. Die in der Laborsituation „simulierte“ therapeutische Position konnte nach Eingliederung der FPOs vollständig umgesetzt werden. Die klinische Situation zeigt eine deutlich verbesserte vertikale Okklusionssituation sowie einen deutlich verbesserten Overbite/Overjet durch die anteriore Adaptation der Unterkieferpostion. Die 6-Jahr-Molaren sind optimal in prospektiver Klasse-I-Verzahnung einander gegenüber positioniert. Durch die vollständige Odontoplastik des oberen Milchmolaren wird eine weitere Eruption des Unterkiefer-6-Jahr-Molaren verhindert, der Oberkiefer-6-Jahr-Molar kann in kaudaler Richtung des unteren Molaren weiter durchbrechen oder nacheruptieren; somit wird eine flache Okklusionsebenen-Neigung zukünftig gewährleistet (Abb. 9a bis e).
Fazit
Durch den kalkulierten Eingriff in die Okklusion im Mischgebiss des Heranwachsenden kann das räumliche Verhältnis von Oberkiefer zu Unterkiefer positiv beeinflusst werden, sodass die richtigen funktionellen Impulse für das weitere Wachstum des maxillofazialen Komplexes gegeben werden können. Zu diesem Zweck werden im Labor hergestellte FPOs nach standardisierter klinischer und instrumenteller Diagnostik in physiologischer Unterkieferposition auf den Milchmolaren „installiert“, wodurch der wachsende Organismus in einer physiologischen Kondylen- und Zahnposition verschlüsselt wird und folglich einen positiven Einfluss auf das weitere Wachstum nimmt. Eine deutlich verbesserte Kopfhaltung ist ebenfalls die Folge (Abb. 10).
Via Vertikalaufbau im posterioren Bereich des Ober- und Unterkiefergebisses (1. Milchmolar) sollen die FPOs in erster Linie eine „okklusale De- und Umprogrammierung“ der retralen Unterkieferposition (Klasse II) und eine skelettale Vertikalerhöhung bewirken. Der Beginn der Behandlung muss für jeden Einzelfall sorgfältig ausgewählt werden. Es wird empfohlen, die frühe Wechselgebissphase für den Beginn der Behandlung (zwischen 8 und 9,5 Jahren) zu wählen, um eine ausreichende Persistenz/Verweilzeit der Milchmolaren im Mund zu gewährleisten.
Im Vergleich zu klassischen funktionellen kieferorthopädischen Techniken mit Aktivator, Bionator, Funktionsregler und anderen herausnehmbaren Geräten hat die Methode mit FPOs den entscheidenden Vorteil, eine fest „montierte Apparatur“ zu sein, und garantiert eine Tragezeit und einen Trainingseffekt über 24 Stunden. Darüber hinaus stellen FPOs aufgrund ihrer geringen Größe keinen intraoralen Störfaktor dar. Ein Nachteil könnte der relativ intensive Diagnose- und Planungsaufwand sein.
Wie die Analyse von Nachuntersuchungen deutlich zeigt, handelt es sich jedoch um eine sehr zuverlässige Methode, Fehlbisstendenzen zum richtigen Zeitpunkt zu diagnostizieren und diese frühzeitig mit hoher Vorhersagbarkeit zu behandeln [47]. Insgesamt stellen sich signifikante Verbesserungen in Bezug auf anteriore Rotation des Unterkiefers, eine hohe Inzidenz beim Erreichen dentaler Klasse-I-Bisslagen, eine starke Verbesserung des Gesichtsprofils und eine bemerkenswerte Verbesserung der Kopfhaltung ein [47].
Autoren: G. Reichardt1, M. Greven2,3
1 Zahnärztliche Praxis in der Landhausstraße, Stuttgart, Deutschland
2 Medizinisches Versorgungszentrum R(h)einzahn Bonn, Deutschland
3 Abteilung für Prothetik, Universitätszahnklink Wien, Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich
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