Zu den Hauptaufgaben der Kieferorthopädie gehört neben der Diagnose einer Dysgnathie vor allem die Indikationsstellung zur kieferorthopädischen Behandlung, bei der die Notwendigkeit der Behandlung sowie ihre Erfolgsprognosen zu bewerten sind. Okklusion, Funktion und Ästhetik werden in der modernen Kieferorthopädie und hier speziell in der kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung als gleichwertige Parameter betrachtet. Dies wurde durch die Optimierung der diagnostischen Mittel sowie die Weiterentwicklung und zunehmende Erfahrung in der orthopädischen Chirurgie erreicht. Die Ziele einer kieferorthopädischen bzw. kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung sind:
- Herstellung einer neutralen bzw. funktionellen und stabilen Okklusion bei physiologischer Kondylenposition
- Optimierung der Gesichtsästhetik
- Optimierung der dentalen Ästhetik unter Berücksichtigung der Parodontalverhältnisse
- Sicherung der Stabilität des erreichten Ergebnisses
- Erfüllung der Erwartungen bzw. Zufriedenheit des Patienten
Hinsichtlich der Beurteilung der Erfolgsaussichten einer kieferorthopädischen Therapie sind folgende Faktoren in Betracht zu ziehen:
- der Ausprägungsgrad der vorliegenden Dysgnathie
- die Wachstumskonfiguration und das Wachstumspotenzial
- die individuelle Reaktion der parodontalen und skelettalen Strukturen
- der Allgemeinzustand des Gebisses
- das Alter des Patienten
- die Patientenmitarbeit (Compliance)
- die Wünsche und Erwartungen des Patienten
- die Qualifikation des Behandlers
Es ist wohl allgemein bekannt, dass bei dentoalveolären Behandlungsmaßnahmen die Behandlungsziele, die als das individuell funktionelle und ästhetische Optimum für den zu behandelnden Patienten zu sehen sind, mit den heutigen modernen Behandlungsmethoden vielfach erreicht werden können. In Bezug auf Wachstumsförderung bzw. -hemmung sowie dentoalveolären Ausgleich oder Kompensation im Rahmen der Therapie einer skelettalen Diskrepanz zeigen sich jedoch oft die engen Grenzen kieferorthopädischer Behandlungsvarianten. Während Dysgnathien geringen Umfangs durch rein dentoalveoläre Maßnahmen ausgeglichen werden können, stellt sich vor allem bei ausgeprägten sagittalen Diskrepanzen wie z. B. bei Klasse-II-Dysgnathien die Frage, mithilfe welcher Ansätze diese erfolgreich behandelt werden können. Ist die Kieferrelation korrekt und handelt es sich um eine rein dentoalveoläre Dysgnathie, kann sie durch dentale Bewegungen korrigiert werden. Allerdings sind diese dentalen Bewegungen nur bis zu einem bestimmten Grad möglich und somit limitiert. Eine Korrektur bzw. stabile dentale Kompensation einer skelettalen Dysgnathie (z. B. Beseitigung des frontalen Kreuzbisses bei einer Klasse-III, Beseitigung einer extrem vergrößerten sagittalen Frontzahnstufe bei einer Klasse-II) ist bei manchen Fällen fraglich und stellt in aller Regel einen Kompromiss in ästhetischer und/oder funktioneller Hinsicht dar.
Zur Abklärung der Frage, welche Möglichkeiten zur Therapie der Klasse-II-Dysgnathie infrage kommen, muss das verbliebene Wachstum des Patienten bestimmt werden [1]. Eine Therapieform, die beim Heranwachsenden als kausale Therapie erachtet wird, ist die funktionskieferorthopädische Behandlung, mit der das Wachstum beeinflusst werden kann [2–8]. Ist kein Wachstum therapeutisch verfügbar, verbleibt als kausale Therapieform die orthognathe Chirurgie, mit der die Lagendiskrepanz zwischen den beiden Kiefern korrigiert werden kann (Abb. 1). Eine Prämisse zur erfolgreichen Durchführung einer kombinierten Therapie ist, dass weniger invasive Behandlungsmöglichkeiten (z. B. die erwähnte Wachstumsbeeinflussung) nicht mehr angewandt werden können bzw. nicht zum Erreichen der aufgestellten Behandlungsziele führen oder sogar den Zustand verschlechtern (z. B. Extraktion bei einem flachen Mundprofil oder Distalisation bei einem knappen Überbiss) [9–11]. In diesem Artikel wird die zweite Möglichkeit der kausalen Therapie einer skelettalen Klasse-II-Dysgnathie durch eine kombinierte kieferorthopädisch- kieferchirurgische Korrektur abgehandelt. Dabei wird besonders auf die Vorbereitung und Nachbehandlung unter besonderer Berücksichtigung der vertikalen Relation eingegangen.
Die Gesichtsästhetik
Nach Canut [12] hängt von der Ausgewogenheit der drei hervortretenden Profilmerkmale, nämlich Mund, Kinn und Nase – „ästhetische Achse“ –, weitgehend die Schönheit des menschlichen Gesichtes ab (Abb. 2). Sie bilden in ihrer Gesamtheit die faziale Ästhetiktriade. Innerhalb dieses Bereichs spielt vor allem der Vorsprung bzw. die Konvexität des Mundes eine Rolle für die Jugendlichkeit und Attraktivität des Gesichtes. Auffallendstes Kennzeichen des Alters ist das Verschwinden des Mundvorsprungs, wodurch Kinn und Nase stärker betont werden und es zu einer Ausprägung der Supramentalfalte kommt (Abb. 3). Die Gefahr der Abflachung des Mundvorsprungs und die damit verbundene frühzeitige Alterung des Profils besteht auch bei Extraktionsbehandlungen durch die übermäßige Retraktion der Dentition – „dished in profile“ (Abb. 4 a und b). Dieser Aspekt wäre eine Kontraindikation für eine dentoalveoläre Kompensation einer ausgeprägten skelettalen Dysgnathie.
Von Bedeutung im Rahmen interdisziplinärer, dysgnathiechirurgischer, profilverbessernder Eingriffe ist hervorzuheben, dass funktionell-kieferorthopädisch intendierte Eingriffe immer mit einer ästhetischen Verbesserung des Äußeren einhergehen. Hier gilt der Spruch: „Form goes with Function“ bzw. „Korrelation zwischen Form und Funktion“. Die vertikale Beurteilung des Gesichtes kann sowohl anhand der Fotostataufnahmen als auch der Fernröntgenaufnahme durchgeführt werden [13]. Die faziale Ästhetik wird dabei sowohl in der Sagittalen als auch in der Vertikalen sowie Transversalen beurteilt. Schwarz erstellte 1958 [14] eine detaillierte Klassifikation unterschiedlicher Gesichtsprofile in der Sagittalen. Das gerade Durchschnittsgesicht wird als ideales Gesichtsprofil bezeichnet, bei dem das Subnasale auf der Nasionsenkrechten und das Weichteilpogonion in der Mitte des Kieferprofilfeldes zum Liegen kommt (Abb. 5).
In der Literatur wurden zahlreiche kephalometrische Analysen mit unterschiedlichen Winkeln und Strecken beschrieben, die teilweise durch unterschiedliche Referenzpunkte definiert werden. Allen Analysen gemeinsam ist jedoch die vertikale Einteilung des Gesichtes in drei Drittel. Diese Einteilung erfolgt bei manchen Autoren – wie Arnett & Bergmann [15,16] – metrisch und bei anderen proportional [17–22].
Indikation für die kombinierte kieferorthopädischkieferchirurgische Behandlung
Dysgnathieoperationen haben häufig tiefgreifende Auswirkungen auf das äußere Erscheinungsbild des Gesichtes, das bei Erwachsenen in Analogie zur Verfestigung morphologischer Strukturen einen integralen Bestandteil des individuellen Identitätsgefühls darstellt und infolgedessen eine wichtige Rolle für das Selbstbild spielt. Außerdem „sehen“ die Mitmenschen eine Person vermittelt über ihr Gesicht, was die Qualität der sozialen Erfahrungen entscheidend mitbestimmt [23–26]. Insofern erfordern entsprechend eingreifende Maßnahmen stets auch eine sorgfältige Indikationsstellung und Evaluation aus psychologischer Sicht. Das vom Patienten wahrgenommene Behandlungsergebnis im Hinblick auf die dentale und allgemeine faziale Ästhetik, die subjektive Kosten- (bzw. Schmerzen-) Nutzen-Relation der Behandlung und ihr „sozialer“ Erfolg sind daher als Evaluationskriterien von überdurchschnittlicher Bedeutung. Aus diesen Gründen stellt neben der Funktion (Kiefergelenk, Kaufunktion) die Betrachtung der psychoästhetischen Dimension (skelettale und Weichteilveränderungen sowie Selbsteinschätzung) ein wesentliches Element bei der Indikationsstellung dar. Kombinierte kieferorthopädisch- kieferchirurgische Eingriffe sind häufig Wahleingriffe und unterliegen trotz des weitentwickelten Behandlungsablaufes und der geringen Risikogefahr einer sehr strengen Indikationsstellung. Als Indikation sind anzusehen:
- funktionelle Störungen
- deutlich beeinträchtigte dentofaziale Ästhetik
- Kiefergelenksprobleme
- keine Möglichkeit einer adäquaten prothetischen Versorgung
- totale Rehabilitation wie z. B. bei Patienten mit Lippen- Kiefer-Gaumenspalten
Die logische Antwort auf die Frage: „Welcher Patient ist ein Kandidat für eine kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung?“ ist demnach: „Wenn bei ihm ein gravierendes skelettales oder schwerwiegendes dentoalveoläres Problem vorliegt, das mit alleinigen orthodontischen Maßnahmen nicht zu korrigieren ist.“ Weitere Fragen, die sich in diesem Zusammenhang folglich aufwerfen, sind: „Wann ist ein Problem zu gravierend, um es nicht durch orthodontische Maßnahmen lösen zu können?“ bzw. „Wie soll der Fall behandelt werden, damit die angestrebten Ziele möglichst optimal erreicht werden?“ Um diese Fragen beantworten zu können, ist neben ausführlichen Befundunterlagen (klinische Untersuchung, Funktionsdiagnostik, Röntgenaufnahmen, intra- und extraorale Fotos, Modelle) eine gründliche Anamnese erforderlich, durch die unter anderem das Anliegen und die Motivation des Patienten für die Behandlung ermittelt werden müssen. Denn der Erfolg einer kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung ist nicht nur von der optimalen Zahnstellung und der korrekten Kieferposition abhängig, sondern auch von der Motivation, den Erwartungen und der Zufriedenheit des betreffenden Patienten [27,28].
Über die Behandlungsmotivation kieferorthopädischer Patienten wurden unzählige Befragungen durchgeführt, wobei das Alter, das Geschlecht oder der Bildungsstand Variablen der Bewertung waren. Die Untersuchungen von Flanary [29], Jacobson [31] und Kiyak [32] bezüglich Motiv, Erwartung und Zufriedenheit wiesen darauf hin, dass 79–89 % der Patienten [33], die sich einer kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung unterziehen, dies nicht nur aus funktionellen, sondern vor allem aus ästhetischen Gründen tun, wobei die Gewichtung für den Einzelnen z. B. in Abhängigkeit der extraoralen Ausprägung der Dysgnathie unterschiedlich ausfällt. Zusätzlich hat Kijak [32] bei seinen Untersuchungen festgestellt, dass mehr Frauen als Männer ihren Wunsch zur Verbesserung der fazialen Ästhetik geäußert haben. Scott et al. [34] haben in ihrer Studie – Befragung nach Behandlungsmotiven und -erwartung prä- und postoperativ – festgestellt, dass Patienten postoperativ über Behandlungsmotive berichteten, die präoperativ nicht als wichtig eingestuft bzw. gar nicht erwähnt wurden und vorwiegend aus dem Bereich der Ästhetik kamen [35]. Entsprechend muss sich der Kieferorthopäde an einem Behandlungsziel orientieren, das sowohl ästhetische als auch funktionelle Belange für den Einzelnen maximal erfüllt, da z. B. eine rein okklusionsorientierte Therapie nicht unbedingt mit einem fazialästhetisch befriedigenden Ergebnis verbunden sein muss.
Klasse-II-Dysgnathie mit Beteiligung der Vertikalen – skelettal tiefer Biss
Nach den bisherigen Studien und Literatur nimmt das „Short-face-Syndrom“ bzw. die Klasse-II mit skelettal tiefem Biss mit ca. 22 % aller Dysgnathieoperationen und ca. 45 % der Klasse-II-Fälle zwar numerisch nicht den größten Anteil ein, stellt aber nichtsdestoweniger hinsichtlich der individuellen Therapiezielbestimmung und Behandlungsplanung eine komplexe Herausforderung an das Behandlerteam dar [36–38]. In der wissenschaftlichen Literatur wurde die Therapie des kurzen Untergesichtes bisher nur vereinzelt behandelt [39–42]. Bei Klasse-II-Patienten mit Shortface- Syndrom ist die Harmonie der Gesichtsrelationen gestört [15,16,44]. Das skelettale Untergesicht weist ein Höhendefizit in Relation zum Mittelgesicht auf. Im vertikalen Weichteilprofil besteht die Relation zwischen Weichteilglabella- Subnasale (G’-Sn) und Subnasale-Weichteilmenton (Sn-Me’) von 1:1 nicht mehr, sondern ist zugunsten des Obergesichtes verschoben. Zudem ist die Einteilung des Untergesichtes selbst disharmonisch. Das Verhältnis Subnasale-Stomion (Sn-Stm) zu Stomion-Weichteilmenton (Stm-Me’) von 1:2 bzw. 33 %:67 % ist zugunsten von Subnasale-Stomion (Sn-Stm) verschoben (Abb. 6 a–c). Zu der extraoralen Symptomatik des Short-face-Syndroms gehören ein prominentes Kinn und eine vertiefte Supramentalfalte, die als Alterungszeichen zu sehen sind. Die kephalometrischen Parameter lassen einen kleinen Unterkiefer- und Interbasenwinkel erkennen; die Relation von hinterer zu vorderer Gesichtshöhe (PFH/AFH) ist vergrößert. Es besteht eine skelettale und Weichteildisharmonie zwischen dem Mittel- und Untergesicht. Die intraoralen Befunde ergänzen diese Symptome hinsichtlich der sagittalen und vertikalen Disharmonie: distale Okklusionsverhältnisse, tiefer Biss, Hochstand der Unterkieferfront und verstärkte Spee-Kurve.
Die primäre ästhetische Beeinträchtigung dieser Patienten besteht in dem verkürzten Untergesicht. Für den Behandler stellt sich die Aufgabe, dieses Defizit möglichst weitgehend auszugleichen. Der entscheidende Schritt hierfür erfolgt während des operativen Eingriffs. Die für das Erscheinungsbild individuell nötige Verlängerung des Untergesichtes wird durch das Ausmaß der posterioren Rotation des zahntragenden Unterkiefersegmentes während der Operation vorgegeben [45,46]. Da die orthodontische Vorbereitung zu einem wesentlichen Anteil die Art und das Ausmaß des chirurgischen Eingriffes vorgibt, muss der Kieferorthopäde in der prächirurgischen Phase ein fallbezogenes geplantes Vorgehen wählen.
Klasse-II-Dysgnathie ohne Beteiligung der Vertikalen
Bei diesen Patienten ist die Harmonie der Gesichtsrelationen in der Sagittalen gestört [15,16,44]. Aufgrund des kurzen Unterkiefers und der damit entstehenden Rücklage liegt ein Vorgesicht schräg nach hinten. Zu der extraoralen Symptomatik dieser Dysgnathie gehören eine deutliche Rücklage des Unterkiefers mit einem fliehenden Kinn und ein erschwerter Lippenschluss mit einer eventuellen Unterlippeneinlagerung in der vergrößerten sagittalen Frontzahnstufe. Die kephalometrischen Parameter lassen einen deutlich vergrößerten ANB-Winkel bei einem normalen durchschnittlichen Unterkiefer- sowie Interbasenwinkel erkennen; die Relation von hinterer zu vorderer Gesichtshöhe (PFH/AFH) ist durchschnittlich. Es besteht eine skelettale und Weichteildisharmonie in der sagittalen Ebene. Die intraoralen Befunde ergänzen diese Symptome hinsichtlich der sagittalen Disharmonie: distale Okklusionsverhältnisse mit vergrößerter sagittalen Frontzahnstufe bei normalem Überbiss. Die primäre ästhetische Beeinträchtigung dieser Patienten besteht in der Rücklage des Unterkiefers mit dem schwachen Kinn. Für den Behandler stellt sich die Aufgabe, dieses Defizit möglichst weitgehend auszugleichen. Der entscheidende Schritt hierfür erfolgt während des operativen Eingriffs. Die für das Erscheinungsbild individuell nötige Veränderung der Unterkieferlage und somit die Kinnlage wird durch das Ausmaß der Translation des zahntragenden Unterkiefersegmentes während der Operation vorgegeben [45,46].
Behandlungskonzept und Problemlösung
Klasse-IIDysgnathien (ausgeprägte Klasse-II ohne Beteiligung der Vertikalen und Klasse-II mit Beteiligung der Vertikalen – Shortface- Syndrom), die durch konventionelle kieferorthopädische Behandlung nicht zu lösen sind, werden durch kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung entsprechend dem Therapiekonzept durchgeführt [46]. Danach besteht der Behandlungsablauf aus 6 Phasen:
- „Schienentherapie“ zur Ermittlung der physiologischen Kondylenposition „Zentrik“ vor der endgültigen Planung
- Orthodontie zur Ausformung und Abstimmung der Zahnbögen aufeinander und Dekompensation der skelettalen Dysgnathie
- „Schienentherapie“ zur Ermittlung der „Zentrik“ 3–4 Wochen vor dem operativen Eingriff
- Operative Unterkiefervorverlagerung mittels sagittaler Spaltung nach Obwegeser/Dal Pont bei zentrischer Kondylenpositionierung
- Postoperative Orthodontie zur Feineinstellung der Okklusion
- Retention zur Sicherung des erreichten Ergebnisses
Neben den anfangs erwähnten Behandlungszielen war als besonderes Behandlungsziel die Verbesserung der Gesichtsästhetik sowohl in der Sagittalen als auch in der Vertikalen zu nennen. Dies sollte bei der Klasse-II-Dysgnathie mit Shortface- Syndrom durch eine Verlängerung des Untergesichtes erfolgen, ohne dabei die Kinnprominenz zu verstärken. Bei Patienten der Klasse-II-Dysgnathien mit normaler Vertikalen sollte dies durch Harmonisierung der Sagittalen durch die Vorverlagerung des Unterkiefers erfolgen. Eine Verlängerung des Untergesichtes bzw. des Unterkiefers (Corpus mandibulae) als kausale Therapie mit entsprechendem Effekt auf die faziale Ästhetik konnte bei dieser Patientin nur durch eine kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung erreicht werden.
Chirurgische Rotation
Der entscheidende Schritt für das Ergebnis bei der Klasse-II mit skelettal tiefem Biss aus funktioneller und ästhetischer Sicht erfolgte während des operativen Eingriffs. Ausschlaggebend für die Verbesserung des extraoralen Erscheinungsbildes war die operative Vergrößerung des Unterkieferwinkels (Gonionwinkel) durch eine posteriore Schwenkung des zahntragenden Segmentes. Voraussetzung für die stabile Vergrößerung des Kieferwinkels und damit eine posteriore Rotation des horizontalen UKAstes bei der chirurgischen Verlagerung war die Dreipunktabstützung auf Frontzähnen und Molaren [72,73]. Die posteriore Rotation des Unterkiefersegmentes kann nämlich operativ nur dann durchgeführt werden, wenn bei der operativen Vorverlagerung des Unterkiefersegmentes die Unterkieferfront baldmöglichst mit den palatinalen Flächen der OK-Front in Berührung kommt, sodass eine weitere Vorverlagerung des Segmentes zur Reduktion der vergrößerten sagittalen Frontzahnstufe und somit zur Korrektur der skelettalen Dysgnathie in der Sagittalen nur entlang der palatinalen Flächen der Front möglich ist. Dies gewährt eine Abstützung während der posterioren Rotation des Segmentes, die sich in der notwendigen Vergrößerung des Kieferwinkels und somit der anterioren Gesichtshöhe im Sinne der gewünschten Verlängerung des Untergesichtes niederschlägt (Abb. 7). Durch die Rotation wird das Menton nach kaudal verlagert, sodass die skelettale Situation und das Weichteilprofil des Untergesichtes in der Vertikalen verbessert werden. Dementsprechend vergrößerte sich der Interbasenwinkel, während sich das Verhältnis zwischen der posterioren und anterioren Gesichtshöhe verkleinerte.
Chirurgische Translation
Die Verbesserung der Gesichtsästhetik in der Sagittalen bei der Klasse-II-Dysgnathie mit normaler Vertikalen kann durch eine chirurgisch bedingte Unterkiefervorverlagerung erfolgen; dabei soll die Kinnprominenz nach ventral verstärkt werden. Eine Verlängerung bzw. Vorverlagerung des Unterkiefers als kausale Therapie mit entsprechendem Effekt auf die Funktion und faziale Ästhetik kann bei diesen Patienten nur durch eine kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung erreicht werden (Abb. 8 und 9). Die Translation des Unterkiefersegmentes kann dann operativ durchgeführt werden, wenn bei der operativen Vorverlagerung des Unterkiefersegmentes kein Hindernis steht, sodass eine weitere Vorverlagerung des Segmentes zur Korrektur der vergrößerten sagittalen Frontzahnstufe und somit eine ventrale Verlagerung des Kinns möglich sind.
Klinische Umsetzung des Behandlungskonzeptes
In diesem Beitrag werden zwei exemplarische Fälle der Klasse-IIDysgnathie vorgestellt. Beim ersten Fall handelt es sich um Klasse-II-Dysgnathie mit skelettal tiefem Biss, beim zweiten um Klasse-II-Dysgnathie ohne Beteiligung der Vertikalen.
Fall 1
Diagnose und Problemdarstellung
Die 22-jährige Patientin klagte über die ästhetische Beeinträchtigung durch die Stellung ihrer Oberkieferfrontzähne und die gestauchte Untergesichtspartie. Die Fotostataufnahmen (Abb. 10 a und b) zeigen ein leichtes Vorgesicht schräg nach vorne, ein prominentes Kinn mit vertiefter Supramentalfalte und im Vergleich zum Mittelgesicht (Gl’-Sn) ein kurzes Untergesicht (Sn-Me’). Diese Symptome mit der dazugehörenden Untergesichtskonkavität führen zu einer optischen „Alterung“ des Gesichtes. Die Funktionsanalyse ergab einen leichten Zwangsbiss nach dorsal, der durch die Steilstellung der Oberkieferfront verursacht war. Es lagen weiterhin eine Angle-Klasse- II/2-Dysgnathie, Mittellinienabweichung nach rechts und ein tiefer Biss (7 mm) mit Einbiss in die Gaumenschleimhaut vor. Die Unterkieferfront stand nahezu achsengerecht. Außerdem bestand ein geringer Engstand in der Unterkiefer- und Oberkieferfront. Beide Fronten waren im Hochstand, was sich in einem Niveauunterschied durch die ausgeprägte Spee-Kurve im Unterkiefer äußerte (Abb. 11 a–e). Eine Breitendiskrepanz zwischen dem Oberkiefer- und Unterkieferzahnbogen war festzustellen. Die kephalometrischen Parameter ließen außer der distobasalen Kieferrelation einen kleinen Kieferwinkel (Gonionwinkel = 115°, Mittelwert = 130°) und Interbasenwinkel (ML-NL = 18°, Mittelwert = 23°) erkennen; der verkleinerte Interbasenwinkel war durch die anteriore Rotation des Unterkiefers (ML-SNL = 23°, Mittelwert = 32°) bedingt; die Relation von hinterer zu vorderer Gesichtshöhe (PFH/AFH = 73 %, Mittelwert = 63 %) war vergrößert. Es bestand eine skelettale und Weichteildisharmonie zwischen dem Ober- und Untergesicht; das skelettale Untergesicht (Sna-Me) betrug 52 % statt 55 %; hinzu kam die ausgeprägte Kinnprominenz (Abb. 12, Tab. 1 u. 2). Das kurze Untergesicht stellte für die Patientin die primär ästhetische Beeinträchtigung dar, wegen der sie sich einer kombinierten Behandlung unterziehen wollte [23]. Das Orthopantomogramm (Abb. 13) zeigte keine Auffälligkeiten.
Therapieziele und Lösungsansatz
Der Therapieerfolg wird an den prätherapeutisch individuell aufgestellten Behandlungszielen gemessen. Neben den vorher erwähnten allgemeingültigen Behandlungszielen muss bei der Patientin wegen des skelettal tiefen Bisses das Augenmerk auf die vertikale Dimension gelegt werden. Aufgrund des bereits abgeschlossenen Wachstums scheiden wachtumsbeeinflussende Maßnahmen aus. Zu diskutieren sind auch Platzbeschaffungsmaßnahmen (Distalisation der Molaren oder Extraktion von bleibenden Zähnen) zur Distalisation der Oberkiefereckzähne und anschließender Retraktion der Oberkieferfront zur Herstellung neutraler Okklusionsverhältnisse mit physiologischer Frontzahnstufe in der Sagittalen und Vertikalen. Beide Maßnahmen würden zu einer Verbesserung der Okklusion, können aber auch zu einer Verschlechterung der Ästhetik in der Sagittalen (Profil wird konkaver) und Vertikalen (Untergesicht durch Bisssenkung wird kürzer) führen. Deshalb schied die alleinige kieferorthopädischen Behandlung bei dieser Patientin aus.
Therapeutisches Vorgehen
Der Therapieablauf entspricht dem vorher beschriebenen Behandlungskonzept für kombinierte kieferorthopädisch-kieferchirurgische Fälle.
1. Phase: „Schienentherapie“
Die Aufbissschiene wurde zum Zweck der Diagnostik vor der endgültigen Behandlungsplanung für 4–6 Wochen eingegliedert [47–52]. Dadurch kann die physiologische Kondylenposition (Zentrik) vor der endgültigen Behandlungsplanung ermittelt werden.
2. Phase: Orthodontische Vorbereitung
Bei der orthodontischen Vorbereitung wurden die Zahnbögen mittels einer Multibandapparatur (SWA mit 0,022/0,028 Slot) ausgeformt, aufeinander abgestimmt und die dentale Kompensation der skelettalen Dysgnathie durch Protrusion der steilstehenden Oberkieferfront aufgehoben. Besonderer Wert wurde auf die transversalen Verhältnisse im Bereich der Eckzähne gelegt. Vor der Operation wurde der Unterkiefer nicht nivelliert, sodass die Spee-Kurve und der tiefe Biss unverändert blieben. Die Nivellierung im Unterkiefer durch die Intrusion der Front hätte zu einer größeren Translationsbewegung des zahntragenden Unterkiefersegmentes und weniger zur angestrebten Rotationsbewegung bei der chirurgischen Korrektur geführt [50] (Abb. 14 a–c). Die Breitendiskrepanz zwischen Ober- und Unterkiefer wurde durch die transversale Erweiterung des Oberkieferzahnbogens korrigiert. Diese Maßnahme kann erschwert bis unmöglich sein, wenn eine gesicherte Okklusion vorliegt. Deshalb wurde die Okklusion durch den Einsatz einer Aufbissschiene im Unterkiefer entkoppelt.
3. Phase: „Schienentherapie“ zur Ermittlung der Kondylenzentrik 4–6 Wochen vor dem operativen Eingriff (Abb. 15 a und b)
Ziel ist die Registrierung des Kiefergelenkes in seiner physiologischen Position – Zentrik [50,53], in der die Kondylen intraoperativ positioniert werden. Eine falsche Lage des Unterkiefers bzw. der Kondylen führt zu einer falschen Planung der Verlagerungsstrecke, einer falschen Zentrikübernahme während der Operation und somit unweigerlich zu einem Rezidiv. Früher wurde von uns eine im Labor angefertigte Aufbissschiene verwendet, heute nehmen wir eine vorgefertigte Schiene – Aquasplint –, die auf die Okklusion des jeweiligen Patienten angepasst wird (Abb. 16 a–d).
4. Phase: Kieferchirurgie zur Korrektur der skelettalen Dysgnathie
Nach Modelloperation, Festlegung der Verlagerungsstrecke und Herstellung des Splintes in Zielokklusion wurde die Unterkiefervorverlagerung vorgenommen (Abb. 17). Die operative Unterkiefervorverlagerung wurde mittels sagittaler Spaltung nach Obwegeser/Dal Pont durchgeführt [54–56]. Die operative Ventralverlagerungsstrecke betrug 7 mm. Die zentrische Kondylenpositionierung während der Dysgnathieoperation ist in unserem Behandlungskonzept ein standardisiertes Verfahren zur Aufrechterhaltung der räumlich korrekten Stellung der Kondylen [57] (Abb. 18). Die Fixationsverfahren wurden durch die von Lindorf [58,59] beschriebenen selbstschneidenden Positionierungsschrauben durchgeführt, deren Vorteil die Vermeidung einer Gelenkdislokation ist. Diese Schrauben gewährleisten eine „funktionsstabile Osteosynthese“, weil sie zum einen die beiden Osteotomiefragmente nach der sagittalen Spaltung miteinander fixieren und somit eine ungewollte Fragmentverschiebung verhindern, und zum anderen, weil direkt nach der Operation ohne Ablösungsgefahr der beiden Fragmente voneinander mit der funktionellen Belastung und Therapie begonnen werden kann. Folge der Operation mit der posterioren Rotation des Segmentes bei Dreipunktabstützung war ein lateral offener Biss, der postoperativ schnellstmöglich geschlossen werden musste (Abb. 19 a und b).
5. Phase: Postoperative Orthodontie
Entsprechend beginnt nur wenige Tage (i. d. R. 4. postoperativer Tag) nach der Operation die postchirurgische orthodontische Behandlungsphase:
- Schließen des lateral offenen Bisses – ohne Verlust an skelettaler Höhe
- Stabilisierung und Feineinstellung der Okklusion
Der offene Biss sollte entsprechend der dargelegten Planung möglichst nur durch die Extrusion der Seitenzähne, und zwar vorwiegend im OK, und nicht durch die Intrusion der Fronten geschlossen werden. Nur wenn die Intrusion im Frontzahngebiet vermieden wird, kommt es nicht zu einer anterioren Rotation des Unterkiefers, was mit einem Höhenverlust des Untergesichtes verbunden wäre, sodass ein Teil der chirurgisch gewonnenen Untergesichtsverlängerung verloren gehen würde. Die Schließung des offenen Bisses wurde in zwei Phasen durchgeführt:
- In der ersten Phase wurde der OK-Stahlbogen durch einen weichen Bogen (0,018/0,025 Niti) ersetzt. In diesen Bogen wurden Extrusionsstufen für die Prämolaren und den ersten Molaren eingearbeitet, was die Extrusion dieser Zähne verursachte. Für die Unterstützung des Extrusionseffektes und zur Minimierung der Intrusionsreaktion auf die restlichen Zähne, insbesondere der Front, wurden Upand- down-Elastics eingehängt. Dabei wurden im OK ein Zahn und im UK zwei Zähne belastet. Einige Tage später wurde die Extrusionsstufe im Bereich des verbliebenen offenen Bisses verstärkt und weiterhin Elastics eingehängt (Abb. 20,. 21 a und b).
- Nachdem der Niti-Bogen im OK passiv war, trat die zweite Phase der Schließung des offenen Bisses ein. Der UKBogen wurde gegen einen weichen Niti-Bogen getauscht. Damit die Nivellierung bzw. Schließung des restlichen offenen Bisses durch die Extrusion der Prämolaren erfolgen konnte, und das möglichst nicht durch die Intrusion der Front, wurden wiederum Up-and-down-Elastics eingehängt (Abb. 22).
6. Phase: Retention
Um die Muskulatur in ihrer Adaption an die neue Lage zu unterstützen, wurde als Retentionsgerät ein funktionskieferorthopädisches Gerät eingegliedert.
Ergebnis
Vergleicht man das Behandlungsergebnis nach chirurgischer Korrektur der skelettalen Dysgnathie und abgeschlossener Feineinstellung der Okklusion mit dem Zustand vor der Behandlung, stellt man sowohl in den skelettalen als auch den Weichteilstrukturen Änderungen in der Sagittalen und Vertikalen im Sinne einer Harmonisierung fest.
Intraoral: Nach der chirurgischen Korrektur der skelettalen Dysgnathie und der anschließenden Schließung des lateral offenen Bisses mittels der eingearbeiteten Extrusionsmechanik – unterstützt durch Up-and-down-Elastics – wurde eine Klasse-I-Okklusion mit physiologischer Frontzahnstufe in der Sagittalen und Vertikalen hergestellt (Abb. 23 a–e). Kephalometrisch: Durch die chirurgisch bedingte posteriore Rotation des zahntragenden Segmentes wurde der Kieferwinkel (Gonionwinkel) um 7° vergrößert. Dies führte zu einer Vergrößerung des Interbasenwinkels (ML-NL = 26,5°). Als Folge der Operation mit der posterioren Rotation des zahntragenden Unterkiefersegmentes wurden das skelettale Ober- und Untergesicht (N-Sna:Sna-Me oder UFH:LFH = 45 %:55 %) harmonisiert. Die Verlängerung des Untergesichtes hat eine Vergrößerung der anterioren Gesichtshöhe mit sich gebracht, sodass das Verhältnis zwischen posteriorer und anteriorer Gesichtshöhe harmonischer wurde (PFH/AFH = 66 %). Das Kinn erfuhr durch die posteriore Rotation bei der ventralen Verlagerung zur Korrektur der Dysgnathie in der Sagittalen nur eine geringfügige Veränderung, was bei dem ohnehin prominenten Kinn auch wünschenswert war (Abb. 24 u. 25, Tab. 1 u. 2).
Extraoral: Folge der skelettalen Veränderungen sind entsprechende Änderungen im Weichteilprofil. Die extraoralen Abbildungen zeigen das Ausmaß der Verlängerung des Untergesichtes, die zu einer Harmonisierung der vertikalen Einteilung geführt hat, ohne die Kinnprominenz zu verstärken. Durch die posteriore Rotation kam es weiterhin zur angestrebten Entspannung der Supramentalfalte, was zur Verbesserung des dentofazialen Erscheinungsbildes beigetragen hat (Abb. 26 u. b). Im OPG (Abb. 27) sind nach Behandlungsende physiologische Parodontalverhältnisse zu erkennen.
Fall 2
Diagnose und Problemdarstellung
Die Patientin stellte sich im Alter von 28 Jahren auf eigene Veranlassung vor. Sie klagte über Kiefergelenkschmerzen beim Kauen und ästhetische Beeinträchtigung durch die Stellung ihrer Oberkieferfrontzähne aufgrund der Rücklagestellung des Unterkiefers. Das Fotostat von lateral zeigt ein Vorgesicht schräg nach hinten, ein fliehendes Kinn und nahezu harmonische Gesichtseinteilung in der Vertikalen, die durch die Rücklage des Unterkiefers getäuscht wird (Mittelgesicht:Untergesicht = 49 %:51 % statt 50 %:50 %) [60–62]. Aufgrund der vergrößerten sagittalen Frontzahnstufe (13 mm) bestand eine Unterlippenfehlfunktion im Sinne einer Unterlippeneinlagerung, wodurch der Lippenschluss ohne eine habituelle, ventrale Haltung des Unterkiefers nicht möglich war (Abb. 28 a u. b). Bei der Funktionsanalyse wurde entsprechend eine habituelle Position nach ventral festgestellt, die durch die permanente ventrale Haltung des Unterkiefers für die Gewährleistung des Lippenschlusses und somit Verbesserung der Gesichtsästhetik verursacht wurde. Diese ventrale „Zwangsposition“ führte zu einer Adaption der Muskulatur in dieser Haltung. Es lagen weiterhin eine Angle-Klasse-IIDysgnathie, Mittellinienabweichung nach links, ein leicht vergrößerter Überbiss (4 mm) sowie nach labial gekippte Fronten vor. Außerdem bestand ein Engstand im UK- und leichter Engstand im OK-Zahnbogen. Die Oberkieferfront war im Tiefstand und die Unterkieferfront im Hochstand (Abb. 29 e). Hinzu kam die aufgrund des Verlustes einiger Seitenzähne insuffiziente prothetische Versorgung. Bezüglich der transversalen Verhältnisse bestand, wie bei Distallagen zu erwarten, eine Breitendiskrepanz.
Besondere Aufmerksamkeit ist der Eckzahndistanz im Oberund Unterkiefer zu schenken. Im Unterkiefer betrug diese zwischen den distobukkalen Flächen 30 mm, im Oberkiefer an den in Okklusion korrespondierenden Flächen 26 mm (Abb. 30 c). Die Abstimmung dieser transversalen Verhältnisse war von großer Bedeutung, um nicht bei der operativen Vorverlagerung des Unterkiefers Frühkontakte entstehen zu lassen, die den Unterkiefer mit der Gefahr eines möglichen Rezidivs nach dorsal hätten verdrängen können.
Die FRS-Analyse (Tab. 3 u. 4) verdeutlicht die sagittale und vertikale Dysgnathie sowohl im Weichteilprofil als auch im skelettalen Bereich. Die Parameter zeigen eine distobasale Kieferrelation, einen leicht vergrößerten Interbasenwinkel (ML-NL = 28,5°) aufgrund der posterioren Rotation des Unterkiefers (ML-NSL = 39°) beim ausgeglichen abgelaufenen Wachstumsmuster. Die vertikale Einteilung des Weichteilprofils zeigte nahezu eine Harmonie zwischen dem Mittelund Untergesicht (G’-Sn:Sn-Me’; 51 %:49 %). Im Bereich des Untergesichtes bestand eine deutliche Disharmonie (Sn-Stms:Stms-Me’; 26 %:74 %). Diese Änderungen im Verhältnis lagen weniger an einer Alteration der Oberlippenlänge als vielmehr an einem erschwerten Mundschluss in der Ruheschwebelage. Eine zusätzliche Beurteilung des Untergesichtes zeigte, dass das Verhältnis Subnasale zu Labrale inferius (Sn-Li) und von diesem zum Weichteilmenton (Li-Me’), das 1:0,9 betragen sollte, zugunsten des Teils Sn-Li (1:0,65) verschoben war. Dieses vergrößerte Verhältnis lag primär an dem kurzen Unterkiefer und somit dem erschwerten Mundschluss (Abb. 31a u. b). Das OPG ließ die abgeflachten und entrundeten Kondylen erkennen, die als typisches Merkmal für die Patienten mit Klasse-II-Dysgnathien im erwachsenen Alter zu sehen sind. Die Zähne 35 und 45 wurden prothetisch ersetzt, Zähne 26, 37 und 46 sind endodontisch behandelt worden. Beim Zahn 36 lag klinisch eine freie Bifurkation vor, die die Erhaltung des Zahnes wegen eines ständigen Abszesses infrage stellte. Der Zahn 38 war retiniert – das topografische Verhältnis zum Zahn 37 und dem aufsteigenden Ast erklärt das Ausbleiben des Zahndurchbruchs (Abb. 32).
Therapieziele und Therapieplanung
Zusätzliche Therapieziele zu den vorher erwähnten Behandlungszielen sind:
- Beseitigung der Kiefergelenkschmerzen
- Extraktion des Zahnes 36, Mesialisierung des Zahnes 37 für anschließende Einstellung des Zahnes 38 in den Zahnbogen
Als Voraussetzung für die Einstellung des retinierten Zahnes 38 war die ausreichende Mesialisierung des Zahnes 37, damit der Zahn 38 gleichzeitig aus dem späteren Operationsgebiet bei der Unterkieferosteotomie bewegt werden kann; sonst müsste der Zahn geopfert werden. Die Verbesserung der Gesichtsästhetik in der Sagittalen sollte durch eine chirurgisch bedingte Unterkiefervorverlagerung erfolgen; dabei sollte die Kinnprominenz nach ventral verstärkt werden. Der entscheidende Schritt für das Ergebnis aus funktioneller und ästhetischer Sicht erfolgte durch eine Translation des zahntragenden Segmentes während des operativen Eingriffs. Dies führt zur Korrektur der sagittalen Dysgnathie und gleichzeitig zur Verbesserung der Kinnlage in der sagittalen Dimension (vgl. Abb. 8 u. 9).
Therapeutisches Vorgehen
Die Behandlung der diagnostizierten Dysgnathie erfolgte nach dem vorher beschriebenen Konzept.
1. Phase: „Schienentherapie“
2. Phase: Orthodontie zur Ausformung und Abstimmung der Zahnbögen aufeinander und Dekompensation der skelettalen Dysgnathie sowie zur Einstellung des retinierten Zahnes 38 in den Zahnbogen; dazu wurde eine MB(Multiband)- Apparatur eingegliedert. Die Brücken im dritten und vierten Quadranten wurden durchtrennt. Zahn 36 wurde aus Parodontalgründen extrahiert. Zahn 38 wurde nach der Methode der geschlossenen Elongation operativ freigelegt und auf dessen Krone ein Knöpfchen mit Kettchen befestigt. Für eine mögliche Einstellung des Zahnes 38 wurde der Zahn 37 erst nach mesial bewegt. Anschließend wurde der Teilbogen – die modifizierte Ballista-Feder – eingegliedert (Abb. 33a u. b). Nachdem der Zahn in den Zahnbogen eingestellt wurde, sollte er aus dem Osteotomiegebiet nach mesial bewegt werden; dies erfordert eine starke Mesialisierung des Zahnes 37. Für eine leichte und schnelle Mesialisierung des Zahnes wurde bei der Patientin mesial des Zahnes 37 eine Kortikotomie, die von Watted und Teuscher [63] zum ersten Mal in diesem Zusammenhang beschrieben wurde, durchgeführt. Die Breitendiskrepanz zwischen Oberund Unterkiefer wurde durch die transversale Erweiterung des Oberkieferzahnbogens korrigiert. Für dieses Ziel wurde die Okklusion durch den Einsatz einer Aufbissschiene im Unterkiefer entkoppelt. In diesem Fall war eine maximale Ausformung und Nivellierung angestrebt, damit direkt nach der operativen Verlagerung eine gute Okklusion bei einer maximalen Translation des zahntragenden Segmentes erreicht werden kann.
3. Phase: „Schienentherapie“ zur Ermittlung der „Zentrik“ 3–4 Wochen vor dem operativen Eingriff
4. Phase: Operative Unterkiefervorverlagerung mittels sagittaler Spaltung nach Obwegeser/Dal Pont bei zentrischer Kondylenpositionierung. Aufgrund der maximalen Nivellierung beider Zahnbögen erfolgte eine maximale Translation bei einer maximalen Interkuspidation.
5. Phase: Postoperative Orthodontie zur Feineinstellung der Okklusion. Zur Beseitigung der Interferenzen in der Vertikalen und zur Feineinstellung der Okklusion wurden 4 Tage postoperativ in der gleichen Sitzung die Stahlbögen in beiden Kiefern gegen weiche Bögen (0,018/0,025 Niti) getauscht; für eine effektivere Okklusionseinstellung wurden Up-anddown- Gummizüge eingesetzt. Vier Monate nach der Operation erfolgte die Entfernung der Multibandapparatur.
6. Phase: Retention zur Sicherung des erreichten Ergebnisses
Ergebnisse
Die Abbildungen 34a–e zeigen eine funktionelle, stabile Okklusion und eine korrekte Mittellinie mit physiologischer sagittaler und vertikaler Frontzahnstufe. Die prothetische und konservierende Versorgung erfolgte 3 Monate nach der Entbänderung. Zahn 38 wurde in den Zahnbogen eingestellt, ohne das Operationsgebiert zu beeinträchtigen. Die extraoralen Aufnahmen zeigen eine harmonische Gesichtsdrittelung in der Vertikalen und ein harmonisches Profil in der Sagittalen. Das Mundprofil ist harmonisch mit entspanntem Lippenschluss und einer ausgeglichenen Supramentalfalte (Abb. 35a u. b, Tab. 3 u. 4). Das FRS sowie die Überlagerung zeigen infolge der Translationsbewegung des zahntragenden Segmentes die Änderungen der Parameter in der Sagittalen. Der SNB-Winkel hat sich durch die Vorverlagerung um 5° vergrößert; dementsprechend hat sich der ANB-Winkel reduziert. Aufgrund der operativ bedingten Translationsbewegung wurde der Pogonion-Punkt nach ventral verlagert (um 3,5°). Die Disharmonie im unteren Gesichtsdrittel ist korrigiert, sodass das Verhältnis Sn- Stom zu Stom-Me’ nahezu 1:2 und Sn-Li zu Li-Me’ 1:1 betrug (Abb. 36a–c). Klinisch liegen keine Auffälligkeiten vor; die Kiefergelenk-, Kaufunktion und die Unterkiefermobilität sind uneingeschränkt. Das OPG zeigt die Situation nach Abschluss der Behandlung. Es liegen, soweit röntgenologisch beurteilbar, physiologische Parodontalverhältnisse mit physiologischem Knochenverlauf vor; der Zahn 38 wurde gut in den Zahnbogen eingestellt (Abb. 37).
Diskussion
Bei der Therapie der Klasse-II-Dysgnathie wird nach unserem Behandlungskonzept und entsprechend der angestrebten Behandlungsziele unterschiedliche präoperative und postoperative Orthodontie durchgeführt. Zum Zweck der bei diesen Patienten häufig notwendigen Therapie von Kiefergelenksproblemen sowie zur Diagnostik vor der endgültigen Behandlungsplanung ist die Eingliederung eines Okklusionsentkoppelungsgerätes erforderlich [64–66]. Der Einsatz dieses Gerätes ist ein unabdingbarer Behandlungsschritt, damit die Okklusion entkoppelt wird und somit eine vollständige neuromuskuläre Deprogrammierung mit Ausschaltung aller okklusaler Interferenzen gewährleistet werden kann. Nur so ist eine sichere Registrierung der physiologischen Kondylenposition in der Zentrik vor der endgültigen Behandlungsplanung möglich. Celenza [47–49] sowie Calagna et al. [67] fanden heraus, dass Patienten durch Muskelermüdung oder nach längerem Tragen einer Aufbissschiene über die Scharnierachsenposition den Unterkiefer in einer neuen Position bewegen konnten. Meistens liegt bei den Patienten mit Klasse-II und II/1 ein ventraler Zwangsbiss vor, weil diese Patienten permanent eine ventrale Position des Unterkiefers einnehmen, um den Lippenschluss zu verbessern. Besteht nach der Schienentherapie eine Diskrepanz zwischen der habituellen Okklusion und der zentrischen Kondylenposition (Zentrik), werden alle diagnostischen Unterlagen (FRS-Aufnahme, Fotostat, Studienmodelle und einartikulierte Modelle) in der Zentrik angefertigt, um die endgültige Behandlungsplanung aufstellen zu können. Unterlagen mit einer falschen Kondylenposition, d. h. Unterkieferlage (z. B. wegen eines Zwangsbisses nach ventral bei Klasse- II-Dysgnathien), können zu einer falschen Diagnose, Behandlungsplanung und nicht zuletzt Behandlungsdurchführung mit entsprechender Wirkung auf das Behandlungsergebnis führen.
In dem dargestellten Behandlungskonzept ist 3–4 Wochen vor der Operation der zweite Einsatz einer Aufbissschiene zur Ermittlung der Zentrik obligat. Eine Positionierung der Kiefergelenke in einer falschen Kondylenlage – in diesem Fall ventral – hätte zu einer falschen operativen Verlagerungsstrecke des Unterkiefersegmentes geführt. Die Verlagerungsstrecke wäre in diesem Fall kürzer als notwendig gewesen. Nach der Operation würde eine „Dorsalverlagerung“ der Kondylen in der Fossa resultieren, was eine distale Okklusion mit sich brächte [68–71]. In der Literatur wird dieser Sachverhalt fälschlicherweise als „Rezidiv“ bezeichnet, was korrekterweise eine Fehlplanung gewesen wäre. Bei der kombinierten Behandlung der Klasse-II-Dysgnathien mit skelettal tiefem Biss (wie z. B. beim Short-face-Syndrom) ist neben der Herstellung neutraler und stabiler Okklusionsverhältnisse die weitgehende Optimierung der Gesichtsästhetik und dies insbesondere in der Vertikalen im Sinne einer Untergesichtsverlängerung vornehmliches Behandlungsziel. Dies kann intraoperativ nur dann erfolgen, wenn zusätzlich zur Ventralverlagerung eine posteriore Rotation des Unterkiefersegmentes möglich ist. Aus diesem Grund ist eine Nivellierung des Unterkieferzahnbogens nicht erlaubt. Eine präoperative orthodontische Nivellierung des Unterkieferzahnbogens führt zu einer Reduktion dieses Effektes. Folge ist die alleinige Translationsbewegung des Segmentes. Nachteil dieses Vorgehens wäre bei diesen Patienten nicht nur die übermäßige Ausprägung der Kinnprominenz, sondern auch der rezidivfördernde Effekt, der durch die Belastung des suprahyoidalen Komplexes hervorgerufen würde. Die anteilige Rotationsbewegung führt zu einer kaudalen Verlagerung der Kinnprominenz und schwächt gleichzeitig die Streckung des suprahyoidalen Komplexes ab, was eine Reduktion der Rezidivgefahr mit sich bringt.
Ein wichtiger Punkt bei der Unterkiefervorverlagerung, der vor allem hinsichtlich des Rezidivs beachtet werden muss, ist die Streckung des suprahyoidalen Komplexes (suprahyoidale Muskulatur – insbesondere Musculus digastricus). Je größer das Ausmaß der Translation ist, umso stärker erfolgt die Streckung bzw. Belastung dieser Muskulatur mit entsprechender rezidivfördernder Wirkung, während die Rotation diesen Effekt gering hält (Abb. 38a u. b). Carlson [68] und Reynolds [71] haben in Tierexperimenten mit Affen gezeigt, dass es bei der Unterkiefervorverlagerung zu einer starken Streckung und Belastung der Weichteile des suprahyoidalen Komplexes kommt. Dabei entstehen Kräfte, die das Unterkiefersegment nach posterior zurückziehen. Ellis [69,70] hat bei tierexperimentellen Untersuchungen die posteriore Lage der Kondylen nach der operativen Vorverlagerung des Unterkiefers nachgewiesen. Diese postoperative Rücklage sei auf die nach dorsal wirkenden Muskelkräfte zurückzuführen. Folge der Unterkiefervorverlagerung ist die Umstellung und Umorientierung der betroffenen Weichteile und Muskulatur und somit deren Belastung gegen die neue Unterkieferlage. Eine perioperative Physiotherapie kann im Falle einer großen Verlagerungsstrecke und bei Patienten mit verspannter bzw. kurzer Muskulatur im suprahyoidalen Bereich die Neuorientierung der Muskulatur unterstützen. In jedem Fall empfiehlt sich zur Retention als apparative Maßnahme ein bimaxilläres Gerät wie z. B. der Bionator, um die Adaptation der Muskulatur in ihrer neuen Lage zu unterstützen [72–74].
Nach der operativen Rotation des Unterkiefersegmentes mit der Dreipunktabstützung (Molaren und Front) entsteht der lateral offene Biss. Dies bedingt an den Frontzähnen eine Überbelastung, die über einen längeren Zeitraum Schäden an den Frontzähnen (z. B. Wurzelresorptionen) verursachen kann. Dies ist ein Grund, den postoperativ lateral offenen Biss schnellstmöglich zu schließen, was vorwiegend durch die Extrusion der Oberkieferseitenzähne erfolgen sollte, während die Intrusion der Front möglichst verhindert werden muss. Deshalb werden postoperativ, während die Muskelaktivität ausgeschaltet ist, die Stahlbögen gegen weiche Bögen ausgetauscht, in die die Extrusionsmechanik für die Seitenzähne eingearbeitet werden muss. Diese wird durch Up-and-down-Gummizüge unterstützt [75,76].
Fazit
Entscheidend bei der Umsetzung des vorgestellten Behandlungskonzeptes ist die kieferorthopädische Planung und fallspezifische Festlegung der Behandlungsziele, welche eine optimale Zusammenarbeit beider Fachgebiete – Kieferorthopädie und Kieferchirurgie – erforderlich macht. Nur so können unphysiologische Funktionsabläufe harmonisiert und die dentofaziale Ästhetik optimiert werden.
Autoren: N. Watted1, M. Abu-Hussein2, E. Hussein3, M. Abu Mowais4, P. Proff5, A. Watted6
1 Klinik und Polikliniken für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Germany, Department of Orthodontics, Arab American University, Palestine
2 Department of Pediatric Dentistry, University of Athens, Greece
3 Department of Orthodontics, Arab American University, Palestine
4 Department of Oral and Maxillofacial Surgery, Arab American University, Palestine
5 Department of Orthodontics, University of Regensburg, Germany
6 Dental School of the University of Regensburg, Germany
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