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COVID-19: Orale Diagnostik und bedarfsgerechte Prävention für Patienten und Fachärzte

Warum sind Diabetiker durch das Coronavirus (CoV-2) besonders gefährdet?

Die Mukosa der Mundschleimhaut könnte nach aktuellen Untersuchungen eine Haupteintrittspforte für das Coronavirus SARS-CoV-2 in den Körper sein. Dieser Infektionsweg könnte erklären, weshalb gerade ältere Diabetespatienten häufiger schwere Verläufe von COVID-19 erleiden. Aus Sicht der Autoren sollten Präventionsmaßnahmen bei Diabetespatienten daher den Mund- und Rachenraum mit einbeziehen; sie plädieren generell dafür, die Mundgesundheit und Desinfektion dieses Bereiches stärker bei Präventionskonzepten von COVID-19 zu berücksichtigen.

. Andrey Popov/AdobeStock
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Aufgrund der alarmierenden Verbreitung der Coronaviren SARS-CoV-2 ist es heute mehr denn je erforderlich, die richtigen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zu finden [1]. Viele der vorgeschlagenen Maßnahmen entbehren der wissenschaftlichen Grundlage und haben sich bereits als unwirksam erwiesen [2]. Eine andere Sichtweise könnte notwendig sein, um die Seuchenbekämpfung im Hinblick auf die Fähigkeit des Körpers, sich selbst zu schützen, zu überdenken. Forscher haben vor Kurzem das Angiotensin-Converting Enzym II (ACE2) als den wahrscheinlichen Rezeptor identifiziert, über den SARS-CoV-2 menschliche Zellen infiziert [3].

Neuere Erkenntnisse deuten nun darauf hin, dass ACE2 in der Mundhöhle hoch exprimiert wird und dass es in der Mundhöhle sogar noch prävalenter sein könnte als in der Lunge, die gemeinhin bislang als der primäre Infektionsweg von SARS-CoV-2 angesehen wird [4,5]. Des Weiteren finden sich nachweisbare Viruskonzentrationen im Speichel bei schweren COVID-19-Erkrankungen, sodass von einer Viruslast auch in der Mundschleimhaut und in parodontalen Taschen ausgegangen werden kann [6–8].

Diese Erkenntnisse legen nahe, dass der erste Zugang des Virus in den Körper tatsächlich eher über die Mundschleimhaut erfolgen könnte, von wo es sich dann auf den Rest des Körpers ausbreitet, wie es auch schon für andere Viren beschrieben wurde [9,10].

Neben den typischen Empfehlungen der offiziellen Gesundheitsorganisationen für die Atem-, Hand- und Oberflächenhygiene erscheint eine gezielte Prävention auf der Grundlage der hohen Anfälligkeit der Mundhöhle für die SARS-CoV-2-Anbindung als besonders wichtig. Ziel einer gezielten oralen Prävention muss es sein, das individuelle Risiko einer COVID-19-Erkrankung für Patienten mit chronischer oraler Entzündungsaktivität sowie für medizinisch gefährdete Patienten mit einem erhöhten oralen Risikoprofil zu reduzieren. Zahnfleischerkrankungen (Parodontitis), auch leichte bis mittelschwere Formen, führen zur Ulzeration des Zahnfleischepithels. Diese freiliegende, ulzerierte Oberfläche könnte das Risiko einer Invasion von Krankheitserregern wie SARS-CoV-2 genauso erhöhen, wie dies schon für die HIV-Übertragung gezeigt wurde [11,12]. Ein von COVID-19-Patienten häufig berichtetes Symptom, der temporäre Verlust des Geschmacksinns, kann als weiterer Beleg für die spezielle Fokussierung von SARS-CoV-2 auf den Mund und seine Schleimhäute als Eintrittspforte gewertet werden [7,13]. Es könnte daher die Sensitivität der PCR-Coronatests erhöhen, wenn man beim Abstrich nicht nur den Rachenraum, sondern auch den Sulcus oder die speichelgefüllte Umschlagfalte mit erfasst.

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Eine Lungenentzündung kann durch eine Infektion mit einem Bakterium, einem Virus, einem Pilz oder einem Parasiten hervorgerufen werden. Typischerweise sind die unteren Atemwege durch den Hustenreflex, die Ziliarbewegung der Schleimhautzellen und angeborene Immunmediatoren vor Mikroorganismen geschützt. Sie sind in der Lage, Speichelbakterien, die während des Schlafs oder durch versehentliches Verschlucken angesaugt werden, zu zerstreuen [14]. Eine Beeinträchtigung dieser Abwehrkräfte (wie z.B. bei Langzeitrauchen, Diabetes, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung oder Immunsuppression sowie während einer Intubation oder eines längeren postoperativen Krankenhausaufenthalts) kann jedoch zu einer nosokomialen Lungenentzündung führen [15,16]. Querschnittsstudien haben gezeigt, dass bei zahnlosen Patienten eine schlechte Mundhygiene und keine Zahnarztbesuche das Risiko für die Entwicklung einer Lungenentzündung erhöhen, was darauf hinweist, dass orale Pathobionten eine potenzielle Verbindung zwischen Mund- und Lungenerkrankungen darstellen können [17]. Bei hospitalisierten Personen, die an Lungenentzündung leiden, wurden die respiratorischen Erreger Klebsiella pneumoniae, Escherichia coli, Pseudomonas aeruginosa, Staphylococcus aureus, Haemophilus influenzae und H. parainfluenzae nachgewiesen [18–20], während Parodontalerreger, z.B. Porphyromonas gingivalis, Fusobacterium nucleatum, Prevotella oralis, Campylobacter gracilis, Fusobacterium necrophorum und Aggregatibacter actinomycetemcomitans, in Lungenaspiraten von Personen mit Lungenentzündung identifiziert wurden [21–24].

Studienlage: Zusammenhang zwischen oraler Gesundheit und Pneumonierisiko

In einer kürzlich publizierten Langzeitstudie wurde der Zusammenhang zwischen der oralen Gesundheit und der Inzidenz von Pneumonien bei 98.800 Personen über 12 Jahre in Taiwan untersucht. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass Patienten, die eine Parodontalbehandlung erhielten, ein durchschnittlich um 31% verringertes Risiko für eine Lungenentzündung hatten und dass diejenigen, die eine noch intensivere Parodontaltherapie erhalten hatten, im Vergleich zur Kontrollgruppe sogar ein um 66% verringertes Risiko für eine Lungenentzündung zeigten. Die Studie fand auch heraus, dass Patienten mit anderen chronischen Krankheiten, einschließlich Diabetes, ein signifikant erhöhtes Risiko für eine Lungenentzündung aufwiesen. Diabetische Patienten hatten im Vergleich zur Kontrollgruppe ein um 78% erhöhtes Risiko, eine Lungenentzündung zu entwickeln. Diese Studie belegt den Wert der Mundpflege für die Primärprävention von Lungenentzündungen durch Mundpflege insbesondere bei Menschen mit Diabetes [25].

In einer systematischen Übersicht aus dem Jahr 2017 wurde festgestellt, dass orodentale und/oder parodontale Erkrankungen mit einem adjustierten Odds Ratio (= Chancenverhältnis) von 2,78 ein klarer, signifikanter Risikofaktor für eine ambulant erworbene Pneumonie sind [26]. Es ist weiterhin bekannt, dass sich bei Beatmungspatienten eine Keimbesiedlung der dentalen Plaques mit respiratorischen Problemkeimen wie Staphylococcus aureus oder Pseudomonas aeruginosa nachweisen lässt [27,28].

Regelmäßige Mundpflege führte bei hospitalisierten Patienten und bei Bewohnern von Altersheimen zu einem um 7 bis 12% niedrigeren absoluten Pneumonierisiko im Vergleich zum Auslassen dieser Präventivmaßnahme [29], wie auch andere Untersuchungen zeigen. Bei Beatmungspatienten führt die regelmäßige Mundpflege mit Chlorhexidin zu einer signifikanten Reduktion von beatmungsassoziierten Pneumonien um 18 bis 24% (systematischer Review von 28 randomisierten kontrollierten Studien) [30–32].

Diese und weitere Studien zeigen, dass orale Erreger Atemwegserkrankungen verursachen können, wenn

  • orale Bakterien oder Atemwegserreger aus einem oralen Reservoir in die unteren Atemwege aspiriert werden,
  • Speichelenzyme, die während einer chronischen Parodontalerkrankung oder beim Rauchen freigesetzt werden, die Mundschleimhaut modifizieren und zu einer verstärkten Adhäsion von Atemwegserregern führen und/oder
  • zirkulierende pro-inflammatorische Zytokine, die als Folge einer Parodontalentzündung freigesetzt werden, die Mundschleimhaut modifizieren und die Schutzbarriere schwächen [33,34].

Speichelproteine (Mucine und Immunglobuline) spielen eine wichtige Rolle bei der oralen natürlichen Immunität, um eine bakterielle Besiedlung der Mundhöhle zu verhindern. Dies gilt insbesondere für häufig im Mund vorkommende respiratorische Erreger wie Staphylococcus aureus und Pseudomonas aeruginosa. Normalerweise binden Speichelschleimstoffe an Krankheitserreger der Atemwege, um sie zu entfernen, wenn sie in planktonischer Form umherschwimmen. Wenn Staphylococcus aureus jedoch aufgrund mangelnder Mundhygiene einen Biofilm bildet, können die Speichelabwehrproteine nicht mehr so gut binden, was die Keimbesiedelung verstärkt [36]. Speichelmucine und Amylase werden während einer Parodontitis vermehrt produziert, da der Körper auf die Krankheit reagiert und versucht, die Bakterien zu eliminieren [36,37].

Es gibt mehrere Hypothesen dazu, wie Speichelenzyme die Besiedlung von Atemwegserregern bei Menschen mit und ohne Diabetes in der Mundhöhle fördern [37–39]:

  1. Speichelenzyme, die mit Parodontalerkrankungen assoziiert sind, können die Schleimhautoberflächen entlang der Atemwege verändern und so die Besiedlung durch Krankheitserreger erleichtern. Zu den möglichen Mechanismen der Schleimhautoberflächenmodifikation, die zu einer verstärkten Keimadhäsion führen, gehören (a) die Modifikation des Schleimhautepithels aufgrund hoher Konzentrationen proteolytischer Parodontalbakterien und ihrer spezifischen Enzyme wie Mannosidase, Fucosidase, Hexosaminidase und Sialidase; (b) der Verlust von Oberflächenfibronektin, dem Protein, das die Schleimhaut bedeckt, was zu einer Demaskierung der Oberflächenrezeptoren führt; (c) die Entfernung des Oberflächenfibronektins durch hydrolytische Enzyme und (d) die Freisetzung von Zytokinen.
  2. Hydrolytische Enzyme als Folge von Parodontalerkrankungen können Speichelfilme zerstören und dadurch die Beseitigung von Bakterien erschweren, was die Wahrscheinlichkeit des Einsaugens dieser Erreger in die Lunge erhöht.
  3. Entzündungsmoleküle und periphere mononukleäre Zellen, die im Speichel vorhanden sind, können das respiratorische Epithel modifizieren und die Kolonisierung durch respiratorische Pathogene fördern [37–39].

Der pathophysiologische Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und Lungenerkrankungen ist in einer kürzlich erschienen Übersichtsarbeit sehr anschaulich dargestellt [40].

Statistische Zusammenhänge

Somit sind Patienten mit einer bereits bestehenden Zahnfleischerkrankung, die häufig von einer oralen Entzündung mit konsekutiv reduzierter Schutzfunktion der Mukosa begleitet wird, zusätzlich zu den sonstigen zu erwartenden systemischen Komplikationen aktuell wahrscheinlich einem erhöhten Risiko für eine COVID-19-Infektion ausgesetzt. Aktuelle populationsbasierte Analysen der schweren COVID-19-Verläufe in China [41] weisen hinsichtlich der Altersverteilung deutliche Parallelitäten zur steigenden Prävalenz der Parodontitis in vergleichbaren Untersuchungen, z.B. in den USA, auf (Abb. 1) [42]. Solche Risikopatienten mit einer kompromittierten Mundschleimhaut sind sich ihres erhöhten Risikos meist nicht bewusst, da die oralen Symptome einer chronischen Inflammation oft subklinisch sind. Ein weiteres Indiz ist die aktuelle COVID-19-Mortalitätsstatistik, in der europäische Länder ohne regelhafte und staatlich unterstützte mundhygienische Beratungen und Behandlungen (wie z.B. Belgien, Italien und Spanien) bei vergleichbarer Infrastruktur und vergleichbarem Lebensstandard deutlich höhere Todeszahlen zu beklagen haben als Länder mit besser eingeführten Mundhygieneprogrammen (wie Deutschland, Österreich oder Norwegen, Abb. 2 [43]).

Abb. 1: Alterskorrelierte Prävalenz der moderaten Parodontitis und relatives COVID-19-Erkrankungsrisiko (modifiziert nach Sun et al. [41] und Thornton-Evans et al. [42]). Pfützner
Abb. 1: Alterskorrelierte Prävalenz der moderaten Parodontitis und relatives COVID-19-Erkrankungsrisiko (modifiziert nach Sun et al. [41] und Thornton-Evans et al. [42]).
Abb. 2: COVID-19-Sterbefälle pro Millionen Einwohner in europäischen Ländern mit niedrigerem (schwarz) und hohem (grau) etabliertem Versorgungsstandard bei der Dentalhygiene. Pfützner
Abb. 2: COVID-19-Sterbefälle pro Millionen Einwohner in europäischen Ländern mit niedrigerem (schwarz) und hohem (grau) etabliertem Versorgungsstandard bei der Dentalhygiene.

Diabetes gilt als Risikofaktor für orale Erkrankungen und es ist notwendig, den möglichen oralen Komplikationen bereits in den frühen Stadien Aufmerksamkeit zu schenken. Die International Diabetes Federation (IDF) [44] empfiehlt, zu den regelhaften Untersuchungen bei Diabetes auch eine jährliche Bewertung des Mundraums im Hinblick auf Zahnfleischerkrankungen einschließlich Blutungen während des Zähneputzens oder Inspektion auf Schwellungen hinzuzufügen.

Der multimorbide Patient mit Parodontitis als Komorbidität hat bereits ohne weitere respiratorische Grunderkrankungen (z.B. COPD) ein erschreckend hohes Pneumonierisiko. Dies liegt an der großen Oberfläche der ulzerierten Parodontaltasche, die ein „dreifaches“ Risiko für das Eindringen des Virus darstellt, das aber oft vernachlässigt wird. Diese exponierte ulzerierte Oberfläche bei Parodontitis wurde auf etwa 44 cm2 (= die Hälfte der Handfläche eines Erwachsenen) geschätzt [45].

Darüber hinaus sind einige mit Parodontitis assoziierte parodontopathogene Bakterien, darunter Porphyromonas gingivalis, in der Lage, die Integrität der Schleimhaut durch Blockade der natürlichen Immunantwort des oralen Epithels und der epithelialen Barrierefunktion weiter zu beeinträchtigen (z.B. Tight Junctions und Adherens Junctions) [46]. Der Zahnarzt sollte den Patienten deshalb zu regelmäßigen Untersuchungen und zahnhygienischen Behandlungen raten [47,48].

Hyperglykämien verursachen Bindegewebsschädigungen in der Mundhöhle mit verminderter Synthese von Zahnfleisch-Fibroblasten, die den Verlust von Parodontalfasern und unterstützenden Alveolarknochen nach sich zieht [49]. Darüber hinaus wurde eine Beeinträchtigung der phagozytären Aktivität mononukleärer und polymorphonukleärer Zellen beobachtet, die zur Entstehung einer aggressiven pathogenen subgingivalen Flora führt. Daher kann eine Parodontalinfektion eine systemische Entzündung induzieren, die ihrerseits eine chronische Insulinresistenz aufbaut oder verstärkt. Ein Teufelskreis bestehend aus Hyperglykämie, Parodontitis und Bindegewebsabbau, Inflammation (im Mundraum und systemisch) und Insulinresistenz entsteht, der ohne gleichzeitige effektive Intervention bei allen Störungen praktisch nicht beherrscht werden kann [49].

Biomarker als diagnostische Möglichkeiten

Zum besseren Verständnis dieser Risikosituation könnte neben den etablierten Verfahren (z.B. PSI oder SHIP) ein Biomarker-Screening zur Früherkennung des oralen Gewebeabbaus nützlich sein, um bei erhöhten Inflammationswerten im Mundbereich frühzeitig und gezielt eingreifen zu können.

Ein potenziell nützlicher diagnostischer Biomarker ist die aktive Matrix-Metalloproteinase-8 (aMMP8). Laut mehreren Studien verursacht das Fortschreiten der Parodontitis einen deutlichen Anstieg mit massiver Aktivierung der MMP-8-Konzentrationen im Speichel [50]. Ein erhöhter aMMP-8-Spiegel deutet darauf hin, dass sich das Kollagen im Mund in einem Zustand des Abbaus befindet, während niedrige aMMP-8-Spiegel als Zeichen dafür akzeptiert werden, dass das Gewebe sicher, stark und stabil ist. Stabiles Kollagengewebe (= niedrige aMMP-8-Spiegel) gibt dem Organismus die beste Chance, pathogene Viren in der Mundhöhle daran zu hindern, in den Blutkreislauf zu gelangen.

Die aMMP8 ist für den Abbau von Parodontalgewebe verantwortlich; bei Parodontitis sind die Werte erhöht. Dasselbe aMMP-8 baut aber nicht nur Kollagen, sondern auch zelluläre Adhäsionsmoleküle der Tight Junctions ab, z.B. Occludin [51,52], die als wichtige Barriere gegen Viren gelten [46,53]. Darüber hinaus können die parodontopathogenen P. gingivalis und T. denticola diesen Abbauprozess beschleunigen, indem sie die Aktivierung von Matrix-Metalloproteinasen, wie z.B. MMP-8, mit ihren Proteasen erhöhen [46,54]. So können eine fortschreitende Parodontitis sowie verwandte parodontale Pathogene dazu führen, dass die Mundschleimhaut für virale Invasionen (z.B. SARSCoV-2) durchlässiger wird.

Der Zusammenhang zwischen Parodontitis und verschiedenen systemischen Erkrankungen und Atemwegserkrankungen im Zusammenhang mit COVID-19 kann mit den oben beschriebenen Aspekten, aber auch den systemischen Auswirkungen einer Parodontitis zusammenhängen. Parodontalerkrankungen beeinflussen den Blutzuckerspiegel und beeinträchtigen das angeborene Immunsystem. Parodontitis erhöht auch die systemische Inflammation, da vom Wirt stammende Mediatoren der Parodontitis und der Gewebszerstörung (z.B. Zytokine und Metalloproteinasen) aus dem entzündeten Parodontalgewebe in das Kreislaufsystem freigesetzt werden. Dies kann eine Akutphasen-Proteinreaktion in der Leber aktivieren und die systemische Inflammation weiter verstärken [55].

Darüber hinaus weisen Forscher darauf hin, dass COVID-19-Patienten mit Risikofaktoren wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen, Bluthochdruck und Krebs ein höheres Sterberisiko durch die Coronavirus-Krankheit haben. In ähnlicher Weise haben Patienten mit denselben Risikofaktoren bereits ein erhöhtes Mortalitätsrisiko bei gleichzeitigen Erkrankungen des Mundraums und als gut erforschter Biomarker wird das aMMP-8-Screening für die interdisziplinäre Risikobewertung durch medizinische Fachgesellschaften mit Einschränkungen empfohlen (z.B. Deutsche Gesellschaft für Parodontologie [DG PARO] und Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde [DGZMK] [56]). Parodontitispatienten haben nachweislich ein Risiko für Prädiabetes/Diabetes [57]. Diese Patienten können mit einem aMMP-8-Screening z.B. mittels eines Schnelltests untersucht und dadurch für eine gezielte Prävention identifiziert werden, wie kürzlich publiziert wurde [58,59].

Eine Point-of-Care(POC)-Biomarker-Analyse von aMMP-8 könnte sich neben anderen Möglichkeiten der Risikoerkennung (SHIPFragebogen, PSI) [60] als eine weitere einfache, kosteneffiziente und flächendeckende Lösung für Mundgesundheitsscreenings etablieren, bei der ggf. kein Zahnarzt benötigt wird. Die Untersuchungen können in der medizinischen, zahnmedizinischen oder häuslichen Umgebung innerhalb von 5 Minuten durchgeführt werden. Die Patienten spülen mit dem bereitgestellten sterilen Wasser ihren Mund und entnehmen davon eine Probe, die dann mithilfe eines Lateral-Flow-Immunoassays quantitativ analysiert wird. Dieser aMMP-8-Mundspültest könnte wie oben angegeben ggf. sogar nützlich sein, um das Risiko für einen gefährlichen Verlauf bei globalen Krankheitsausbrüchen wie COVID-19 zu bewerten, da er eine Schwächung der Eintrittspforte des Virus in den Körper anzeigt. Dies gilt insbesondere auch für Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommensniveau (LMICs), die ihr primäres Gesundheitssystem stärken müssen, um die Auswirkungen einer derartigen globalen Pandemie zu verringern [1,61]. Nach der POC-Erkennung von Patienten mit einem erhöhten Risikoprofil könnten die identifizierten Zielpatienten zu einer besseren häuslichen Mundhygiene angeleitet werden und selektiv eine angemessene zahnärztliche Versorgung und/oder eine regelmäßige entzündungshemmende Behandlung erhalten (z.B. antimikrobielles Mundwasser), um die Immunkompetenz im Mund- und Rachenraum zu verbessern. Somit könnte die Replikation der Viren im Mund-Rachenraum vor der weiteren Verteilung im Körper gehemmt und damit ggf. das Risiko für eine COVID-19-Erkrankung sowie für schwere Krankheitsverläufe verringert werden.

In einer aktuellen Konsensus-Stellungnahme chinesischer Experten über die notwendigen Schutz- und Hygienemaßnahmen bei Angehörigen der Gesundheitsberufe mit Kontakt zu SARSCoV-2-Patienten wird erstmals auch dem Thema „Schutz und Desinfektion von Mund und Rachen“ eine besondere Bedeutung zugestanden [62]. Schon bei früheren Pandemien wurden 2-mal tägliche Mundspülungen mit silberhaltiger antimikrobieller Lösung in Kombination mit Frischlufttherapie empfohlen und eingesetzt [63]. In jedem Fall sollte daher die Mundgesundheit zukünftig als weitere wichtige Komorbidität bei der Analyse der Risikofaktoren für schwere COVID-19-Verläufe miterfasst werden, um die Evidenzlage zu dieser Thematik weiter zu verbessern. Aufgrund der oben ausgeführten Aspekte glauben wir, dass das Ziel einer Parodontalbehandlung auch gesunde aMMP-8-Spiegel sein können, die den Patienten eine bessere parodontale Gesundheit und eine bessere Chance bieten, eine gut funktionierende gingivale epitheliale Barriere gegen pathogene Viren und Bakterien in der Mundhöhle zu haben, damit diese nicht in den Blutkreislauf gelangen können. Dies bedeutet, dass regelmäßiges tägliches Zähneputzen mit zusätzlicher Applikation von desinfizierenden Mundspüllösungen bis in den hinteren Rachenraum – insbesondere bei Patienten mit Diabetes – dazu beitragen könnte, die möglichen systemischen Folgen viraler Infektionen dieses Bereiches zu vermindern.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Medizin, Zahnmedizin und Regierungsbehörden über den Tellerrand hinausschauen müssen, um intelligente Strategien zur Milderung der Auswirkungen dieser aktuellen Pandemie zu entwickeln. Die selektive Identifizierung und der Schutz von Menschen mit mangelhafter Integrität der Mundschleimhautbarriere könnten eine kostenwirksame Möglichkeit des Krankheitsmanagements sein, insbesondere in Gebieten mit begrenzten medizinisch/zahnärztlichen Einrichtungen, d.h. in den LMICs, aber natürlich auch in den europäischen Industrieländern. Selbst in der entwickelten globalisierten Welt, in der transkontinentale Reisen an der Tagesordnung sind, breitet sich das Virus rasch aus. Die von uns vorgeschlagene gezielte Präventionsstrategie mit zusätzlichen Empfehlungen zur Überwachung und Erhaltung der Mundgesundheit kann ein schneller und einfacher Ansatz zum Schutz gegen die aktuelle Coronavirus-Pandemie sein. COVID-19 macht nicht an den Grenzen halt; es ist eine globale Herausforderung und Lösungen erfordern ein interdisziplinäres Bündnis von Experten in allen Bereichen inklusive der Zahnheilkunde, Parodontologie und Diabetologie.

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