Patienten mit Behinderung in der zahnärztlichen Praxis

Die Behandlung von Menschen mit Behinderung ist ein Thema, das in der Zahnmedizin noch immer eher selten angesprochen wird. Daran haben auch derzeitige Bestrebungen hin zu einer „inklusiven Gesellschaft“ kaum etwas geändert. Dabei kann diese Patientengruppe in der Praxis erfolgreich behandelt werden – vorausgesetzt, der Zahnarzt trifft einige Vorbereitungen. Unser Autor beschreibt, wie Fallstricke u. a. in rechtlichen Belangen, der Praxisorganisation und der eigentlichen Therapie vermieden werden können. So empfiehlt es sich beispielsweise, einen Zusatzanamnesebogen parat zu haben, einen Blick in das Betreuungsgesetz zu werfen und die Betreuenden mit ins Boot zu holen.
Die wohnortnahe ambulante Behandlung von Patienten mit Behinderung in der zahnärztlichen Praxis sollte heutzutage eine Selbstverständlichkeit sein und ist doch nicht immer leicht umzusetzen. Häufig erschweren Aspekte eine erfolgreiche zahnärztliche Behandlung, die mit der eigentlichen zahnmedizinischen Fragestellung überhaupt nichts zu tun haben. „Fallstricke“ können auftreten in den Bereichen:
- eigene Einstellung/Haltung
- Recht/Organisation
- Lebensumfeld
- Behandlungen
- Abrechnung
Die Behandlung von Patienten mit Behinderung wird von den meisten Zahnärzten als belastend empfunden [1]. Die Behandlung von Menschen mit Behinderung muss jedoch nicht zwingend eine Belastung darstellen, sondern kann durchaus eine Bereicherung sein – für den Praxisalltag, für das Praxisimage, aber zu allervorderst für den Zahnarzt selbst. Achtet man auf mögliche „Fallstricke“, kann die Behandlung dieser sehr inhomogenen Patientengruppe in jedes Praxiskonzept erfolgreich integriert werden.
Eigene Einstellung
Die von Deutschland 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention fordert keine Sonderrechte, sondern konkretisiert und spezifiziert die universellen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen vor dem Hintergrund ihrer Lebenslagen. Sie erfasst Lebensbereiche wie Barrierefreiheit, Mobilität, Bildung, Arbeit, Teilhabe an politischen Prozessen, Gleichberechtigung und auch Gesundheit. In Artikel 25 wird „eine Gesundheitsversorgung von derselben Qualität und auf dem selben Standard wie für andere Menschen“ gefordert und darüber hinaus „Gesundheitsleistungen, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderung benötigt werden“ [2]. Teilhabe behinderter Menschen ist ein Menschenrecht, kein Akt der Fürsorge oder Gnade. Menschen mit Behinderung gehören deshalb von Anfang an mitten in die Gesellschaft (Inklusion). Interessant ist, dass der aktuelle Behindertenbericht der Bundesregierung nun „Teilhabebericht über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen“ heißt [3]. Daran wird deutlich, dass sich die Sichtweise auf Menschen mit Behinderung verändert. Behinderung wird nicht nur als das Ergebnis eines persönlichen Defizits angesehen, sondern Menschen mit Behinderung werden auch durch Barrieren am selbstbestimmten Leben und an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert.
Eine Hilfe ist es, sich persönlich die eigene grundsätzliche Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung zu vergegenwärtigen. Aus dieser inneren Einstellung leitet sich nicht nur die (Zahn-)Arzt-Patienten-Beziehung ab, sondern sie beeinflusst auch bewusst oder unbewusst Therapieentscheidungen. Die folgenden Fragen sollte der Zahnarzt sich stellen: Bin ich noch verhaftet in den Haltungen: „Behinderte sollten in speziellen Einrichtungen untergebracht sein, wo sich Fachleute um sie kümmern und sie in einer in sich geschlossenen, heilen Welt gut versorgt werden“ („Separation“) oder „Menschen mit Behinderung sollen auch an unserem gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen“ („Integration“)? Oder bin ich schon einen Schritt weiter im Sinne der von der Behindertenrechtskonvention geforderten Inklusion? Ähnliche Fragestellungen kann man auch auf das Auftreten gegenüber Menschen mit Behinderung beziehen: Trete ich noch paternalistisch geprägt auf („Ich weiß, was für dich gut ist.“)? Reduziere ich die Patienten auf deren körperlichen Befund und missachte ihre Autonomie nur wegen ihrer Behinderung? Oder gehe ich partnerschaftlich mit meinen Patienten mit Beeinträchtigung um? Zeige ich Empathie und positive Wertschätzung und kommuniziere auf Augenhöhe (Abb. 1)? Duze ich erwachsene Patienten mit Beeinträchtigung, insbesondere Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, wie selbstverständlich oder verwende ich die wertschätzende „Sie“-Anrede? Spreche ich meine Patienten mit Behinderung direkt an oder kommuniziere ich nur mit den Begleitpersonen? Letztendlich: Rede ich mit ihnen oder nur über sie?
Solche Überlegungen sollten auch das Praxisteam erfassen: Wie gehen meine Mitarbeiter/innen mit der Patientengruppe um? Welche Wertschätzung bringen sie gegenüber den Patienten mit Beeinträchtigungen auf? Haben wir in einer Teambesprechung schon einmal über dieses Thema gesprochen?
Recht und Organisation
Zusatzanamnesebogen
Vor dem Erstkontakt empfiehlt es sich, durch einen Zusatzanamnesebogen wichtige Hintergrundinformationen abzufragen. So ist z. B. die Art der Unterbringung ein wichtiger Hinweis auf den Umfang der häuslichen Betreuung. Menschen mit geistiger Behinderung leben zu Hause, in einer Wohneinrichtung der Behindertenhilfe oder werden ambulant betreut. Wichtig ist zu wissen, wer z. B. für Terminabsprachen der richtige Ansprechpartner ist und wie dieser zu erreichen ist. Ansprechpartner können Angehörige, Wohngruppenleiter oder Mitarbeiter des ambulant betreuten Wohnens sein. Darüber hinaus werden, sofern eine Betreuung eingerichtet wurde, die Kontaktdaten des gesetzlichen Betreuers abgefragt. Neben der Art und Ursache der Behinderung ist es schon im Vorfeld hilfreich zu wissen, ob es sich um einen Rollstuhlfahrer handelt und ob dieser in einen zahnärztlichen Stuhl umgelagert werden kann. Die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit kann durch einen psychosozialen Kurzbefund erhoben werden. Ein wichtiger Hinweis bei einem Neupatienten bringt die Frage, wie die bisherigen zahnärztlichen Behandlungen abliefen. Und schließlich wird gefragt, ob der Patient Unterstützung bei der täglichen Zahnpflege benötigt. Ein Beispiel eines solchen Zusatzanamnesebogens für Patienten mit Behinderung hat die Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg entwickelt (als PDF auf der Homepage www.lzkbw.de abrufbar) [4].
Kooperationsstufen: kooperativ, bedingt kooperativ, nicht kooperativ
Während der Erstuntersuchung wird die Kooperativität des Patienten eingeschätzt und dokumentiert. Dies erleichtert für künftige Terminvereinbarungen das Abschätzen des Zeitbedarfs. In unserer Praxis hat es sich bewährt, die Zugänglichkeit grob in drei Kooperationsstufen zu unterteilen: kooperativ, bedingt kooperativ, nicht kooperativ. Bei guter Kooperation werden die üblichen Behandlungszeiten vergeben. Für bedingt kooperative Patienten muss eine längere Behandlungszeit eingeplant werden und für nicht kooperative Patienten werden kürzere Zeiten reserviert, da bei diesen Patienten nur eine oberflächliche Untersuchung stattfinden kann und Behandlungen in der Regel in Narkose durchgeführt werden müssen.
Die Beurteilung der Kooperation läuft schrittweise ab.
- Setzt sich der Patient auf den Behandlungsstuhl?
- Öffnet der Patient den Mund und lässt ihn auch offen?
- Lässt der Patient eine visuelle Untersuchung mit dem Spiegel zu?
- Lässt der Patient eine Untersuchung mit der zahnärztlichen Sonde zu?
- Lässt der Patient eine Politur mit dem rotierenden Polierbürstchen zu?
- Lässt der Patient das Zahnsteinentfernungsgerät (ZEG) samt großem Sauger zu?
Ist eine Zahnsteinentfernung mittels ZEG ohne Weiteres möglich, so kann davon ausgegangen werden, dass auch andere zahnärztliche Eingriffe problemlos durchführbar sind und der Patient voll kooperativ ist. Als bedingt kooperativ bezeichnen wir Patienten, die noch eine Politur mit rotierenden Bürstchen oder Gummikelchen tolerieren, sich aber dem Sauger bzw. dem ZEG-Gerät verweigern. Diese Patientengruppe lässt sich in der Regel mit etwas pädagogischem Geschick gut in ein Prophylaxeprogramm einbinden (Abb. 2). Als unkooperativ bzw. einer zahnärztlichen Behandlung nicht zugänglich werden Patienten eingestuft, die sich nicht oder nur visuell untersuchen lassen. Unberücksichtigt bleiben bei dieser groben Klassifizierung spezielle Besonderheiten, wie z. B. Spritzenphobien oder extreme Würgereize, die gesondert dokumentiert werden.
Diese Kooperationsstufen werden in der EDV hinterlegt und bieten eine gute Orientierung für die Mitarbeiterin am Empfang, wenn künftige Termine telefonisch vereinbart werden. Ebenfalls notiert wird, ob der Patient im Rollstuhl sitzt, und wenn ja, ob dieser auf den Behandlungsstuhl umgelagert werden kann.
Spezielle Sprechzeiten
Spezielle Sprechzeiten für Patienten mit Behinderung haben sich bewährt. Für Begleitpersonen von Menschen mit herausforderndem Verhalten oder einfach nur lauten und unruhigen Menschen mit Behinderung bedeutet es einen enormen Stress, im Wartezimmer ihre Betreuten ständig zu maßregeln, um wartende nichtbehinderte Patienten nicht zu stören. Wenn die Begleitpersonen wissen, dass keine nichtbehinderten Patienten in der Praxis sind und sich niemand „gestört“ fühlen kann, entspannen sich Begleitpersonen und auch die Patienten mit Behinderung wesentlich, was sich positiv auf die Behandlungswilligkeit auswirkt.
Während der speziellen Sprechzeiten können auch ganze Wohngruppen aus Behindertenwohneinrichtungen einbestellt werden. Dies ist für die Wohnheime eine Erleichterung, da weniger Betreuungspersonal eingesetzt werden muss, als wenn die Bewohner einzeln zum Zahnarzt begleitet werden müssen.
Betreuungsgesetz
Ist ein volljähriger geistig behinderter Patient nicht oder nur bedingt geschäfts- und einwilligungsfähig, wurde in der Regel eine Betreuung vom Betreuungsgericht eingerichtet. Der Betreuer erhält einen Betreuungsausweis, aus dem hervorgeht, für welche Bereiche er mitentscheiden muss. Für die zahnärztliche Betreuung sind die Bereiche „Gesundheitssorge“ und „Vermögenssorge“ relevant. In der Regel ist ein Betreuer für alle Bereiche zuständig, doch können auch für die unterschiedlichen Bereiche verschiedene Betreuer bestellt worden sein.
Der Betreuer und selbstverständlich auch der Patient müssen vor (zahn-)medizinischen Eingriffen in einem persönlichen Gespräch nach den üblichen Kriterien aufgeklärt werden und ihre Einwilligung geben. Gleiches gilt auch, wenn der Patient Behandlungskosten privat zu tragen hat. Ohne die vor dem Eingriff durchgeführten und dokumentierten Aufklärungsgespräche macht sich der Behandler strafbar bzw. verliert seinen Honoraranspruch. Meistens werden als Betreuer Angehörige bestellt. Häufig übernehmen auch ehrenamtliche Betreuer oder Berufsbetreuer diese Aufgabe. Darüber hinaus können auch Behörden als Betreuer eingesetzt werden. Dabei muss man beachten, dass oft nicht die gesetzlichen Betreuer die Patienten zum Zahnarzt begleiten, sondern Mitarbeiter aus Behinderteneinrichtungen, die die Patienten pädagogisch und pflegerisch betreuen. Mitarbeiter von Behinderteneinrichtungen, in denen die Menschen mit Behinderung arbeiten und wohnen, dürfen für diese Bewohner nicht als Betreuer bestellt werden. D. h., der Behandler darf sich niemals verleiten lassen einen zahnärztlichen Eingriff vorzunehmen, der lediglich auf der Zustimmung einer Begleitperson beruht, die zwar den Patienten gut kennt, aber keine rechtsverbindlichen Entscheidungen für diese Person treffen darf. Es empfiehlt sich daher, sich vor wichtigen Eingriffen den vom Betreuungsgericht ausgestellten Betreuungsausweis vorlegen zu lassen. Eine gut lesbare Einführung in das Betreuungsrecht unter Berücksichtung des aktuellen Patientenrechtegesetzes bietet die Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg und das Bundesjustizministerium zum Download [5,6].
Organisationsverantwortung
Werden in der Zahnarztpraxis in Zusammenarbeit mit einem Anästhesisten Behandlungen in ambulanter Narkose durchgeführt, übernimmt auch der Zahnarzt als Praxisbetreiber im Rahmen der Organisationsverantwortung Mitverantwortung bei eventuellen Narkosefehlern des Anästhesisten. Daher wird empfohlen, schriftliche Vereinbarungen mit dem Anästhesisten zu treffen, wonach der Anästhesiearbeitsplatz den geltenden Ansprüchen und Empfehlungen entspricht. Die Aufklärung über die Narkoserisiken erfolgt durch den Anästhesisten. Der Zahnarzt klärt über die Risiken des zahnärztlichen Eingriffs auf. Auch sollte keine Vermischung der Honorarabrechnungen erfolgen [7].
Entscheidungsfindung Narkose
Mit der Empfehlung, eine Behandlung in Narkose durchzuführen, übernimmt der Zahnarzt eine hohe Verantwortung. Grundsätzlich muss eine persönliche Voruntersuchung stattfinden und es sollte mindestens ein gescheiterter Behandlungsversuch im Wachzustand dokumentiert sein. Die Entscheidung, eine Behandlung in Narkose durchzuführen, darf keinesfalls ausschließlich auf Äußerungen von Betreuenden oder Angehörigen beruhen, die eventuell nur den womöglich hohen Zeit- oder Transportaufwand eines Vorstellungstermins scheuen (Tab. 1). Ebenso ist eine ärztliche Voruntersuchung notwendig, um die Narkosefähigkeit (ADA-Klassifizierung) zu beurteilen. Schließlich müssen noch persönliche Aufklärungsgespräche vom Anästhesisten und Zahnarzt mit dem gesetzlichen Betreuer geführt werden. Es empfiehlt sich, alle Beteiligten – Patient, gesetzlicher Betreuer, Vertrauenspersonen – in den Entscheidungsprozess einzubinden. Des Weiteren muss abgeklärt werden, ob die perioperative Betreuung gewährleistet ist. Wer überwacht und gewährleistet die präoperative Nüchternheit, wer begleitet den Patienten in die Praxis und betreut ihn während der Aufwach- und Überwachungsphase, wie ist die Betreuung nach dem Eingriff zu Hause in der Nacht organisiert?
Da immer mehr Menschen mit geistiger Behinderung aus der stationären Wohnform (Heim) in ambulante Wohnformen (eigene Wohnung, Wohngemeinschaft) wechseln, ist die postoperative Betreuung oft ein großes Organisationsproblem für die Einrichtungsträger.
Für akut notwendige Behandlungen, die in Narkose durchgeführt werden müssen, ist es wichtig, über ein Netzwerk mit Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, Oralchirurgen und Kliniken für Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie zu verfügen, die kurzfristig eine Akutbehandlung oder Patienten mit einem bekannten Narkoserisiko übernehmen können.
Lebensumfeld: Umgang mit Betreuenden und Angehörigen
In der Zusammenarbeit mit den Angehörigen und Betreuenden ist eine gute Kommunikation notwendig. Eltern haben schon zahlreiche positive, aber auch viele negative Erfahrungen mit Ärzten und Pflegepersonal gemacht und sind häufig sehr skeptisch. Betreuende haben oft die Einstellung, (Zahn-)Ärzte müssen sich doch auch mit den Besonderheiten behinderter Menschen bestens auskennen. Auf der anderen Seite sind (Zahn-)Ärzte oft verunsichert, wie mit dieser Patientengruppe umzugehen ist, oder sind im anderen Extremfall genervt, dass Begleitpersonen ständig in die Therapie hineinreden. Um Missverständnissen und Misserfolgen und damit auch Streitereien vorzubeugen, sollten Strategien gemeinsam entwickelt werden. Was wäre die Optimalversorgung, was wäre eine akzeptable Versorgung? Was kann der Patient leisten, wo benötigt er Unterstützung? Was kann die Zahnarztpraxis leisten, was muss zu Hause geleistet werden? Wo müssen Kompromisse eingegangen werden und warum?
In Gesprächen mit Angehörigen und Betreuenden sollte auch auf die Wortwahl geachtet werden. Angehörige und Betreuende spüren schnell, über welches Hintergrundwissen und wie viel Erfahrung der Zahnarzt verfügt und welche innere Haltung der Zahnarzt seinen Patienten mit Behinderung entgegenbringt. So sollte nicht mehr von „Insassen“ in Heimen, sondern von „Bewohnern“ gesprochen werden. Die Bezeichnung „Behinderte“ wird durch „Menschen mit Behinderung“ oder zunehmend „Menschen mit Beeinträchtigung“ ersetzt. Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht geduzt, außer man kennt sich schon lange bzw. der Patient wünscht von sich aus, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Der Begriff „Vormund“ wird nur noch in bestimmten Fällen bei Minderjährigen verwendet. Erwachsene haben einen „(gesetzlichen) Betreuer“. Menschen mit Down-Syndrom sind keine „Mongoloiden“. Auch Bezeichnungen wie „Spastiker“ oder „Epileptiker“ sind nicht mehr gebräuchlich, sondern „Menschen mit (infantiler) Zerebralparese“ bzw. „Menschen mit Epilepsie“.
Die mangelnde Mundhygiene ist ein Dauerthema in der Behindertenzahnheilkunde. Es gibt nur wenige Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, die wirklich gut selbstständig ihre Zähne reinigen können. Die meisten Menschen mit geistiger Behinderung benötigen Unterstützung. Eine wichtige Aufgabe des Praxisteams ist daher, die Begleitpersonen immer wieder zu motivieren (Abb. 3). Kritik muss ehrlich und konstruktiv erfolgen. Die Mundhygieneempfehlungen sollten einfach, nachvollziehbar und realisierbar sein, damit sie auch an die Kollegen der Wohngruppe richtig weitergegeben werden können (Keep it simple.). Schriftliche Empfehlungen, die auch in das Qualitätsmanagement eines Heimes eingebunden werden können, sind hilfreich. Ziel muss letztlich sein, die betreuenden Personen zu Mitstreitern zu machen für gesunde Zähne bis ins hohe Alter. Dazu binden wir die Begleitpersonen auch häufig in die Behandlung mit ein. Durch das Assistieren (z. B. Stützen des Kopfes oder Halten der Hand) wird den Begleitpersonen vergegenwärtigt, wie mühevoll die zahnmedizinische Behandlung von Menschen mit Behinderung sein kann (Abb. 4). Gute Argumente, um Angehörige und Betreuende für die Zahngesundheit zu sensibilisieren, sind: Schmerzfreiheit, kein Mundgeruch (!), weniger (Behandlungs-)Aufwand bei konsequenter Prophylaxe, Freude am Essen erhalten (kein Pürieren notwendig) und schließlich auch die Wirkung auf Außenstehende (Ästhetik).
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Abb. 3: Die Begleitperson muss mit den Mundhygieneempfehlungen vertraut gemacht werden.
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Abb. 4: Die Pflegekraft unterstützt den Zahnarzt während der Behandlung.
Behandlung
Lagerung
Die meisten Rollstuhlfahrer lassen sich in den Behandlungsstuhl umlagern. Viele können dies alleine. Wenn Begleitpersonen dabei sind, können diese beim Umlagern unterstützen. Manchmal muss auch das Praxispersonal dabei helfen. Wie man mit einem Rollstuhl umgeht, wo welche Bremsen bedient werden, wie man Fuß-, Arm- und Kopfstützen abbaut und wie ein Patient sicher und rückenschonend umgelagert werden kann, lässt man sich von einer Pflegefachkraft zeigen. Am besten übt man dies auch gegenseitig z. B. im Rahmen einer Teambesprechung. Viele Rollstuhlfahrer sitzen in individuell angepassten Pflegerollstühlen. Diese Patienten lagert man für kleine Eingriffe nicht auf die Behandlungsliege um. Die Pflegerollstühle lassen sich kippen, sodass eine Behandlung auch im Rollstuhl durchführbar ist. Wird ein Patient vom Krankentransport auf einer Krankentransportliege gebracht, so bittet man bei kurzen Eingriffen die begleitenden Rettungssanitäter, kurz zu warten (d. h., man besticht sie mit einer Tasse Kaffee), damit der Patient nicht umgelagert werden muss.
Zugang
Menschen mit geistiger Behinderung erleben Situationen viel stärker emotional geprägt als Menschen ohne Behinderung. Daher gilt es, einen emotionalen Zugang aufzubauen. Stimmlage, Körpersprache, Mimik sind viel wichtigere Instrumente als sachliche Argumente. Wichtig ist, mit den Patienten direkt zu kommunizieren, auf sie einzugehen und nicht nur mit den Begleitpersonen zu sprechen. Eine langsamere Entwicklung oder auch Stagnation im geistigen, emotionalen und sozialen Bereich führt oft zu einem großen Auseinanderklaffen zwischen kalendarischem und geistigem Entwicklungsalter [8]. Lässt man sich auf die Lebenswirklichkeit der behinderten Patienten ein, kann meist ein emotional geprägter Zugang zwischen Patient und Praxisteam aufgebaut werden. Dies kann innerhalb weniger Sekunden geschehen, dies kann viele Jahre dauern oder auch überhaupt nicht funktionieren.
Letztlich ist für den Erfolg der zahnärztlichen Behandlung nicht wichtig, ob der Patient mit geistiger Behinderung kooperiert, weil er die Notwendigkeit einer Behandlung verstanden hat, oder ob er gut mitmacht, weil er die Behandlerin oder den Behandler einfach nur sympathisch findet und demjenigen vertraut.
Motorische Unruhe
Die motorische Unruhe stellt ein hohes Risiko in der zahnärztlichen Behandlung dar. Durch abrupte Bewegungen mit dem Kopf oder den Armen können zahnärztliche Instrumente abgleiten und dadurch Weichteile in der Mundhöhle oder das Gesicht verletzen. Auch können dabei zahnärztliche Kleinteile geschluckt oder aspiriert werden.
Um dieses Risiko zu minimieren, arbeiten wir gerne mit doppelter Assistenz, wobei die zweite Assistenz den Kopf leicht stützt. Grundsätzlich sollte keine Turbine wegen des Nachlaufs verwendet werden. Da sich nicht immer ein Kofferdam anlegen lässt, sollten Wurzelkanalinstrumente z. B. mit Zahnseide gesichert werden. Bewährt haben sich bei Wurzelkanalbehandlungen die maschinelle Aufbereitung, die elektrometrische Längenmessung und thermoplastische Füllverfahren.
Sämtliche Kleinteile – z. B. Brücken bei der Anprobe, aber auch Watterollen – sollten bei unruhigen Patienten mit Zahnseide gesichert werden (Abb. 5). Lässt sich das Käppchen an den kleinen Saugkanülen für den Speichelzieher abziehen, so sollte dieses vorher entfernt werden. Schließt der Patient unvermittelt den Mund und die Assistenz erschrickt und zieht reflexartig den Speichelzieher aus dem Mund, könnte das Käppchen in der Mundhöhle verbleiben und geschluckt oder aspiriert werden.
In einzelnen Fällen kann die Verwendung von Amalgam in der Füllungstherapie bei Patienten, bei denen eine gewissenhafte Trockenlegung nicht gewährleistet werden kann und eine Behandlung in Narkose sich nicht rechtfertigen lässt, durchaus eine adäquate Versorgung sein.
Die Herstellung von detailgenauen Abformungen stellt eine große Herausforderung dar. Mit der Technik der Korrekturabformung lassen sich auch bei motorisch unruhigen Patienten akzeptable Ergebnisse erzielen.
Nach chirurgischen Eingriffen nähen wir mit atraumatischem Nahtmaterial mit fester Nadel-Faden-Verbindung.
Zahnersatz
Grundsätzlich darf sich das Ergebnis der zahnmedizinischen Versorgung von Patienten mit Behinderung von dem eines Patienten ohne Behinderung nicht unterscheiden. Im Einzelfall muss jedoch von den allgemeingültigen Behandlungsprinzipien abgewichen werden und ein individuelles Optimum im Sinne einer adäquaten Versorgung definiert werden. Solche Abweichungen von den allgemeinen Standards müssen aber begründet sein. Die alleinige Begründung „geistige Behinderung“ genügt nicht [9]. In der Behindertenzahnheilkunde treten häufig Beschädigungen an verblendeten Kronen und Brückengliedern auf. Häufig stürzen Patienten mit Epilepsie während eines Anfalls ungeschickt. Rollstühle kippen. Durch autoaggressives Verhalten oder Habits, z. B. Schlagen mit einem Löffel auf die Zähne, frakturieren Verblendungen. In solchen Fällen wäre eine gut begründbare und sinnvolle Abweichung vom üblichen Standard der metallkeramischen Verblendung die Verblendung mit Kunststoff und das vorherige Anbringen von Makroretentionen am Gerüst, damit eine Reparatur der Verblendung im Mund möglich ist.
Die Gewöhnung an herausnehmbaren Zahnersatz ist nicht immer einfach. Ein gemeinsam mit Angehörigen oder Betreuenden ausgedachtes pädagogisches Übungsprogramm führt dann häufig doch zum Erfolg. Die täglichen Tragezeiten der Prothese sind anfangs nur kurz und nur unter Aufsicht einer betreuenden Person, damit die Prothese nicht „verschwindet“. Die Tragezeiten werden kontinuierlich erhöht und das Ganze mit einem kleinen Belohnungssystem kombiniert.
Wenn sich trotz aller Bemühungen kein Erfolg einstellt, kann immer noch auf das Konzept der verkürzten Seitenzahnreihe übergegangen werden. Wie in der Alterszahnheilkunde auch, sollte bei der Gestaltung des herausnehmbaren Zahnersatzes darauf geachtet werden, dass kein Verletzungsrisiko z. B. an nach distal offenen Klammerarmen besteht, insbesondere wenn pflegende Personen den Zahnersatz ein- und ausgliedern. Besonders muss an die Hygienefähigkeit und leichte Handhabbarkeit gedacht werden. Auch wenn viele Parallelen zur Alterzahnheilkunde bestehen, handelt es sich bei Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung um eine im Vergleich junge Patientengruppe. Das durchschnittliche Lebensalter von Menschen, die Eingliederungshilfe erhalten, liegt bei 32 Jahren [10]. Dies macht deutlich, wie wichtig präventive Konzepte in der Behindertenzahnheilkunde sind, da auch Menschen mit Behinderung heutzutage eine gute Lebenserwartung haben [11].
Abrechnung: Sozialgesetzgebung
Obwohl im SGB V § 2a aufgeführt ist, dass den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen sei, geht der BEMA von einem mobilen, kooperativen und eigenverantwortlichen Patienten aus. Dementsprechend sind auch die Richtlinien der Krankenkassen formuliert und grenzen z. B. in der Prophylaxe erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen, die keine eigenverantwortliche Zahnpflege betreiben können, aus. Auch die PAR-Richtlinien und einige ZE-Richtlinien behindern (im Sinne von „verhindern“) in vielen Fällen eine adäquate Versorgung. Ebenso wird nirgendwo der enorm hohe Beratungsaufwand (Patient – Begleitpersonen – gesetzlicher Betreuer) berücksichtigt.
Ausblick
Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) haben mit ihrem Alters- und Behindertenkonzept (AuB-Konzept) Vorschläge zur Verbesserung der zahnmedizinischen Betreuung dieser Patientengruppen vorgelegt [12]. Vielleicht setzt auch der Weltkongress der IADH (International Association for Disability and Oral Health) vom 2. bis 4. Oktober 2014 in Berlin neue Impulse für die Behindertenzahnheilkunde in Deutschland [13].

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