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Allgemeine Zahnheilkunde

Die intraligamentäre Anästhesie: Methode und Materialien

Bekannt ist sie seit mehr als 100 Jahren: die intraligamentäre Anästhesie (ILA). Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in Frankreich über die Anästhesie von einzelnen Zähnen berichtet: „Anesthésie intra-ligamentaire“. Bourdain (1925) beschreibt diese Methode der Einzelzahnanästhesie sehr genau; allerdings standen damals noch keine geeigneten Injektionssysteme und keine feinen Kanülen für diese minimalinvasive Lokalanästhesie-Methode zur Verfügung.

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Von allen praktizierenden Zahnärztinnen und Zahnärzten täglich viele Male appliziert, sind die Leitungs- und die Infiltrationsanästhesie weltweit der Standard der dentalen Lokalanästhesie. Die Komplikationen dieser Basismethoden der Schmerzausschaltung der Zahnheilkunde sind bekannt und müssen vom Behandler und Patienten akzeptiert werden. Bei der inserierten Kanüle – ohne die Möglichkeit einer Sichtkontrolle – ist es immer möglich, ein Gefäß und/oder einen Nerv zu treffen und Läsionen zu generieren. Selbst eine Aspiration (Ansaugung infolge Unterdrucks) verhindert keinen Gefäßkontakt; bei etwa jeder zehnten Leitungsanästhesie und bei jeder 25. Terminalanästhesie muss damit gerechnet werden [20].

Nach Aspiration erfolgt die langsame Injektion der Anästhesielösung, i. d. R. eine Karpule = 1,7 ml Articainhydrochlorid mit Adrenalin, z. B. Ultracain DS. So wird ein Depot gebildet, das nach einer angemessenen Wartezeit (Latenz) den gewünschten Anästhesieeffekt auslöst. Selbst bei einer „negativen Aspiration“ ist nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass die Kanülenspitze in einem Gefäß – in der Gefäßwand – positioniert ist. Nach Lipp [16] finden sich auch bei negativer Aspiration noch ca. 20 % unbemerkte Injektionen (falsch negative Aspiration) in einem Gefäß. Eine akzidentelle intravenöse Injektion kann zu Komplikationen führen, die sich Patient und Behandler nicht wünschen. Bei erfolgreicher Anästhesie kündigt sich der Wirkungseintritt der Leitungsanästhesie bereits nach wenigen Minuten durch Parästhesie im Bereich der betreffenden Unterlippenhälfte an. Der Patient gibt ein „Kribbeln“ und „Pelzigsein“ an [20]. Bei einem Teil der Injektionen – ohne die Möglichkeit einer Sichtkontrolle – wird das Depot nicht in unmittelbarer Nähe des zu betäubenden Nervs gesetzt, sodass keine ausreichende Anästhesiewirkung eintritt. Jetzt hat der Behandler ein weiteres Problem, nämlich ein zweites Mal die Kanüle einzuführen und Anästhetikum zu applizieren. Eine Nervläsion ohne eine Reaktionsmöglichkeit des Patienten ist nicht auszuschließen. Bei entzündetem Gewebe nimmt die Wirksamkeit der Leitungsanästhesie infolge der Erniedrigung des pH-Wertes ab. Komplettierungen sind in diesem Falle angezeigt.

Vorkommnis in der Praxis

Anfang Juni 2016 berichtete die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) über eine 62-jährige Patientin, die während der Behandlung bei ihrem Zahnarzt in Hemer/Sauerland im Behandlungsstuhl gestorben war. Die durchgeführte Leitungsanästhesie in Vorbereitung der anstehenden parodontalen Behandlung erfolgte lege artis. Die Komplikationen traten während der Latenz zwischen Injektion des Anästhetikums und Eintritt der Analgesie ein, als die Patientin ohne Überwachung im Behandlungszimmer war. Die eingetretenen Komplikationen wurden vom behandelnden Zahnarzt festgestellt, als er zur Überprüfung des Anästhesieeintritts wieder in den Behandlungsraum zurückkam. Unverzüglich durchgeführte Erste-Hilfe-Maßnahmen blieben ohne Erfolg und auch der sofort angeforderte Notarzt konnte in der Praxis nur noch den Tod der Patientin feststellen. Die Obduktion hat keinen organischen Befund oder irgendwelche Vorerkrankungen ergeben.

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Zahnärztliche Behandlungen sind in sehr vielen Fällen für den Patienten nur zumutbar, wenn vor der anstehenden zahnerhaltenden oder zahnchirurgischen Maßnahme, einer Zahnextraktion, Implantation, Zahnwurzel- oder Parodontalbehandlung das Schmerzempfinden ausgeschaltet ist [3,8]. In vielen Fällen stehen die Komplikationen und Risiken der zahnärztlichen Behandlung in direktem Zusammenhang mit der Lokalanästhesie. Auch die Komplikationen und Risiken der Leitungs- und Infiltrationsanästhesie sind mit dem Patienten zu thematisieren (BGB § 630e, [4]).

Das Patientenrechtegesetz gibt vor, dass neben den Risiken „auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen ist, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.“ Durch die am Foramen mandibulae eingeführte Injektionsnadel kann es zu einem Gefäßkontakt und zu dadurch verursachten Blutungen kommen. Im geschilderten Fall der verstorbenen Patientin kann es möglicherweise auch zu einer versehentlichen intravasalen Injektion gekommen sein, weil bei der Aspiration die Kanülenspitze in der Gefäßwand positioniert war – falsch negative Aspiration [2,10]. Der Patient sollte zudem darauf hingewiesen werden, dass die Wirkung der Leitungs- und auch der Infiltrationsanästhesie noch einige Stunden nach Abschluss der Behandlung anhält, was artikulatorische und mastikatorische Einschränkungen zur Folge haben kann.

Alternativen der Leitungs- und Infiltrationsanästhesie

Nach dem Stand der Technik, Wissenschaft und Klinik ist neben den weltweit gelehrten und täglich angewandten Lokalanästhesie-Methoden – der Leitungs- und Infiltrationsanästhesie – im Jahre 2016 die intraligamentäre Anästhesie (ILA) eine „gleichermaßen indizierte und übliche Methode“ der zahnärztlichen Lokalanästhesie [2,3,8,18]. Bei einem vergleichbaren Anästhesieeffekt mit geringeren Belastungen und ohne das Risiko eines Gefäß- und/oder Nervenkontakts ist sie „eine Alternative“ der konventionellen Lokalanästhesie- Methoden. Die applizierte Menge Anästhetikum bei der ILA ist nur etwa ein Viertel der Mengen, die bei der Leitungsund/ oder Infiltrationsanästhesie injiziert werden – pro Zahn ca. 0,45 ml. Die Frage, warum die intraligamentäre Anästhesie noch immer nicht im Spritzenkurs während des Studiums als primäre Methode der Schmerzausschaltung bei weitgehend allen Indikationen und Patientengruppen gelehrt wird, können nur die Damen und Herren der Lehre beantworten. In der Lehre wird die ILA empfohlen, wenn die beiden anderen Lokalanästhesie-Methoden nicht zum Erfolg geführt haben [21]. Aktuell wird von der Uni Rostock der Fall einer Phobie-Patientin beschrieben, die die Behandlung unter Leitungsanästhesie verweigerte und auch eine Intubationsnarkose „mit der Flucht der Patientin vom OPTisch kurz vor der Narkoseeinleitung ein jähes Ende“ fand. Die zeitversetzt durchgeführten zahnmedizinischen Maßnahmen fanden unter der von der Patientin akzeptierten intraligamentären Anästhesie (ILA) statt [1]. Appliziert wurde die ILA allerdings mit „großkalibrigen Spritzensystemen“, die maximal nur noch vor Extraktionen angewandt werden sollten, da aufgrund des integrierten mehrstufigen Hebelsystems zur Verstärkung des Injektionsdruckes histologische Schädigungen nicht ausgeschlossen werden können, die dann iatrogen bedingt sind.

Stand der ILA 2016

Basis einer erfolgreichen „ILA“ sind die Beherrschung der Methode, die bei ZÄKammer-Fortbildungen oder – bedingt – empirisch durch punktebewertete Fortbildungsartikel, -bücher und -DVDs erlernt werden kann, ein adäquates modernes Instrumentarium und die Anwendung bewährter Anästhetika mit Adrenalin [3,22,12,24]. Neben mechanischen Spritzensystemen, z. B. der DIN-genormten Dosierradspritze Soft Ject (Henke-Sass/Wolf, Tuttlingen), deren klinische Eignung in zahlreichen Studien erfolgreich überprüft wurde (Abb. 1) [7,8], stehen heute auch ausgereifte, elektronisch gesteuerte Injektionssysteme, z. B. das STA-System (mectron Deutschland, Köln), zur Verfügung [13,14]. Die Injektion erfolgt dabei ohne Spritze durch einen „Zauberstab“ (Abb. 2) und reduziert die Aversion sensibler Patienten, vor allem von Kindern, gegen „die Spritze“. Für die intraligamentäre Anästhesie sollten nur bewährte Anästhetika mit Adrenalin appliziert werden [12]. Das Erlernen und die sichere Anwendung der intraligamentären Anästhesie setzen voraus, dass der Behandler sich an die anatomischen Gegebenheiten des Patienten „heranfühlt“. Er muss einen minimalinvasiven Injektionsdruck aufbauen, am einfachsten mit der Dosierradspritze, um den interstitiellen Gegendruck mit angemessenem eigenem Injektionsdruck zu überwinden. Dazu wird eine sehr feine Kanüle (max. Durchmesser 0,3 mm) etwa 1 bis 2, max. 3 mm in den Desmodontalspalt eingeführt, bis ein fester Kontakt mit dem Desmodontalgewebe gespürt wird. Dann dreht der Behandler das Dosierrad langsam – gegen den interstitiellen Gewebewiderstand – nach vorne und dient so das zu applizierende Anästhetikum. Das „angediente“ Anästhetikum – pro Wurzel etwa 0,2 mm – diffundiert in das den Zahn umgebende Gewebe und wird vom spongiösen Alveolarknochen ganz langsam resorbiert.

Abb. 1: DIN-genormte Dosierradspritze Soft Ject für intraligamentale Injektionen.
Abb. 1: DIN-genormte Dosierradspritze Soft Ject für intraligamentale Injektionen.
Abb. 2: Elektronisch gesteuertes STA-System.
Abb. 2: Elektronisch gesteuertes STA-System.

Medizintechnischer und klinischer Fortschritt

Die Methode der intraligamentären Anästhesie – Injektion von Anästhetikumlösungen in das Ligamentum circulare via Sulcus gingivalis – ist seit mehr als 100 Jahren bekannt, aber erst in den 1970er-Jahren wurde die Anwendung praktikabel, als Spezialinstrumente für intraligamentale Injektionen verfügbar wurden [5,6]. Für die histologischen und klinischen Basisstudien wurden ILA-Spritzen vom Pistolentyp z. B. Peripress, Resista, Omegna/Italien, oder Ligmaject, Henke-Sass/ Wolf, Tuttlingen (Abb. 3) angewandt [11,17,23]. Mehr als 15 Jahre waren diese Instrumentarien der Stand der Technik für intraligamentale Injektionssysteme. Ein integriertes mehrstufiges Hebelsystem verstärkt die Injektionskraft, um den interstitiellen Gegendruck leicht zu überwinden. Jeweils 0,2 ml Anästhetikum wurden bei einem Durchzug des Injektionshebels appliziert. Mit diesen Spritzensystemen wurden Injektionsdrücke bis 344 N(ewton) gemessen – mit einem durchschnittlichen Druck von 91,6 N [15]. Um den Injektionsdruck besser zu kontrollieren, wurde bei der Ultraject (Sanofi aventis, Frankfurt) ein Druckbegrenzungsmechanismus in das Spritzensystem integriert (Abb. 4). In der Fachliteratur [20,21] werden diese intraligamentalen Injektionssysteme als „Hochdruckzylinderampullenspritzen“ klassifiziert. Die nächste Generation der ILA-Injektionssysteme, die Dosierhebelspritzen, z. B. die Citoject (Heraeus Kulzer, Hanau), ermöglichte die Applikation geringerer Mengen von 0,06 ml pro Hebeldruck und somit eine punktgenaue Anwendung der Anästhetikumlösungen (Abb. 5).

Abb. 3: Pistolenspritzen Peripress oder Ligmaject für intraligamentale Injektionen.
Abb. 3: Pistolenspritzen Peripress oder Ligmaject für intraligamentale Injektionen.
Abb. 4: Pistolenspritze Ultraject mit integriertem Druckbegrenzungsmechanismus.
Abb. 4: Pistolenspritze Ultraject mit integriertem Druckbegrenzungsmechanismus.
Abb. 5: Dosierhebelspritzen Citoject ohne und mit Druckbegrenzung.
Abb. 5: Dosierhebelspritzen Citoject ohne und mit Druckbegrenzung.

Neben Extraktionen wurden zahnerhaltende Behandlungen unter ILA möglich. Auch hier wurden druckbegrenzende Mechanismen integriert. Seit Ende des letzten Jahrhunderts sind Spritzensysteme für intraligamentale Injektionen ohne ein integriertes mehrstufiges Hebelsystem zur Kraftverstärkung verfügbar. Mit diesen Instrumentarien kann der Injektionsdruck präzise an die individuellen, anatomischen Strukturen des Patienten angepasst werden. Ein Injektionsdruck von etwa 5 N ist Standard (< 0,1 MPa), wenn 0,2 ml in ungefähr 20 Sekunden injiziert werden [9].

Aus der Praxis – für die Praxis

Die ILA ist bei allen Zähnen, für fast alle Indikationen und bei weitgehend allen Patienten anwendbar, ausgenommen bei langdauernden großflächigen dento-alveolären chirurgischen Eingriffen, wo die ILA die Anforderungen nur bedingt erfüllen kann, oder bei Patienten mit einem akuten Endokarditisrisiko, bei denen eine intraligamentäre Anästhesie kontraindiziert ist. Die Thematisierung der Risiken und der Alternativen der durchzuführenden Schmerzausschaltung mit dem Patienten kann signifikant minimiert werden. Details können im „Curriculum“ von Benz et al. [3] nachgelesen werden. Eine Metaanlayse der klinischen Erfahrungen der ILA von 1976 bis 2014 wurde in der DZZ veröffentlicht [18]. Die Umstellung der täglich praktizierenden Lokalanästhesie-Methoden auf die „primäre Methode intraligamentäre Anästhesie“ reduziert das Risiko von Komplikationen der Infiltrations- und Leitungsanästhesie nicht nur signifikant, sondern schützt auch vor unliebsamen juristischen Auseinandersetzungen. Die aktuelle Rechtsprechung bestätigt, dass eine Leitungsanästhesie, die zu einem Schaden beim Patienten geführt hat, ohne die Aufklärung der „Alternative intraligamentäre Anästhesie“ erfolgte und ergo ohne Zustimmung des Patienten appliziert wurde, eine Körperverletzung ist.

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