Parodontaltherapie braucht einen langen Atem

„Immer locker bleiben? Die moderne Parodontaltherapie“ lautete das Motto der 61. Sylter Woche. 1.300 Teilnehmer besuchten den Fortbildungskongress der Zahnärztekammer Schleswig-Holstein im Juni in Westerland/Sylt. Inhaltlich stand in diesem Jahr die Parodontitis im Zentrum der Sylter Woche.
Zu viel Lockerheit kann manches Mal eher schaden. So sollte sich der Zahnarzt bei Therapie und Nachsorge der Parodontitis gewiss nicht entspannt zurücklehnen. Aber auf Zahnmedizinisches allein war die Frage im Motto der Fortbildungswoche nicht gemünzt, sondern auch auf aktuelle gesundheitspolitische Problemstellungen. Bei denen demonstrieren die Zahnärztekammer Schleswig-Holstein und die Bundeszahnärztekammer Standfestigkeit, wie die Ausführungen zur Eröffnung der Sylter Woche zeigten. So thematisierten der Präsident der Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, Dr. Michael Brandt, und der Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, Prof. Dr. Christoph Benz, in ihren Eröffnungsvorträgen u.a. das Terminservice- und Versorgungsgesetz, die neue Approbationsordnung, Bürokratielast und Vergütung nach GOZ. Mit Blick auf die Digitalisierung merkte Prof. Benz an, dass diese kein Allheilmittel sei und die Umsetzung gut durchdacht sein müsse.
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Dr. Michael Brandt, Präsident ZÄK Schleswig-Holstein.
© Volker Frenzel/Zahnärztekammer Schleswig-Holstein -
Prof. Dr. Christoph Benz, Vizepräsident der BZÄK.
© Volker Frenzel/Zahnärztekammer Schleswig-Holstein
Parodontitis: von molekularbiologischen Grundlagen bis Nachsorge
Mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DG PARO) nahm die Sylter Woche in diesem Jahr als Schwerpunktthema die Parodontitis in den Fokus. Auf diesem Fortbildungskongress konnten sich Zahnärztinnen, Zahnärzte und Praxispersonal einen umfassenden Überblick über die Parodontologie und ihre Schnittstellen zu anderen zahnmedizinischen Fachgebieten und der Allgemeinmedizin verschaffen – mit Vorträgen und Seminaren von insgesamt 24 namhaften in- und ausländische Referenten, darunter Prof. Dr. Christof Dörfer (Präsident der DG PARO) und Prof. Dr. Henrik Dommisch (Präsident der Berliner Gesellschaft für Parodontologie). Die Bandbreite der praxisrelevanten Themen reichte von den molekularbiologischen Grundlagen der Parodontitis über die Diagnostik, nichtchirurgische und chirurgische Therapie bis hin zur prothetischen Planung im parodontal geschädigten Gebiss und der Nachsorge. Ein weiteres Thema auf dem Kongress waren die neuen S3-Leitlinien für die systematische Parodontitistherapie. Premiere hatte das Format eines Diskussions-Battles, in dem sich ein Parodontologe und ein Prothetiker, Prof. Dr. Stefan Fickl (Würzburg und Fürth) und Prof. Dr. Torsten Mundt (Greifswald), gegenüberstanden und die passende Therapie in einem parodontologischen Fallbeispiel diskutierten. Moderiert wurde der Wettstreit von Priv.-Doz. Dr. Christian Graetz (Kiel).
Von der Symbiose zur Dysbiose
Prof. Dr. Henrik Dommisch (Berlin) stellte den Prozess des Erkrankens auf mikrobiologischer Ebene dar: Aus einem symbiotischen Biofilm des klinisch Gesunden entwickelt sich über verschiedene Stadien eine Dysbiose beim an Parodontitis erkrankten Patienten. Diese Dysbiose ist eine Verschiebung auf Bakterienebene hin zu einer Übermacht an pathogenen Bakterien, ausgehend von Plaqueanlagerungen unter Einfluss verschiedener Faktoren. Dieser Prozess dauert ca. 21 Tage an [1], da die Immunabwehr pathogene Bakterien zunächst bekämpfe und insbesondere die „chemische Barriere“, gebildet durch antimikrobielle Peptide, diese in Schach halte, so der Referent. Erst ab dem 14. Tag ist daher mit einer beginnenden Dysbiose/Gingivitis zu rechnen.
Parodontalsonde bleibt zentrales Diagnostikinstrument
Eine hohe Relevanz für den niedergelassenen Zahnarzt hatte der Vortrag von Prof. Dr. Peter Eickholz (Frankfurt) zur Diagnostik von Parodontalerkrankungen. Er mahnte eine frühe Diagnostik an, um die Gewebsdestruktion bei Parodontitis möglichst in den Anfängen zu stoppen. Der Parodontale Screening Index (PSI) sollte ab dem 10. Lebensjahr bei jeder Erstuntersuchung sowie alle 2 Jahre erhoben werden. Diese sextantenweise Sondierung gibt erste Anhaltspunkte für eine mögliche Erkrankung. Wird ein Code 3 oder 4 festgestellt, ist eine weitergehende Diagnostik notwendig. Als zentraler Teil davon wird der vollständige Parodontalstatus (Attachmentverlust/Sondierungstiefen) mittels Parodontalsonde an 6 Stellen je Zahn erhoben. Der Referent empfahl sowohl die manuelle Parodontalsonde als auch die elektronische Florida-Sonde als geeignete Diagnostikinstrumente. Alternativen zur Parodontalsonde sieht Prof. Eickholz derzeit nicht: Molekularbiologische Tests sind nach seiner Ansicht nicht dazu geeignet, Paro-Patienten zu identifizieren. Mit der Nabers-Sonde sollte im Zuge der Diagnostik die Furkationsbeteiligung an den Molaren und den ersten Prämolaren (Oberkiefer) unbedingt überprüft werden.
Auch schwer parodontal geschädigte Zähne können über lange Zeit erhalten werden
Ein überzeugendes Praxiskonzept zur Behandlung „aggressiver Parodontitiden“ stellte PD Dr. Amelie Bäumer-König M.Cs. (Bielefeld) vor. Dieses Krankheitsbild ist nach der neuen Klassifikation parodontaler Erkrankungen (2018) nicht mehr definiert, sondern als Parodontitis Stadium III/IV, Grad C beschrieben*. Aus diesem Grund titelte die Referentin um in: „Wenn es schnell bergab geht“, was diese Form der Parodontitis prägnant charakterisiert, da die kennzeichnenden Faktoren ein rapider Attachment- und Knochenverlust sind, junges Alter, familiäre Häufung bei guter allgemeiner Gesundheit des Patienten. Mit nach Hause nahm man bei diesem Referat vor allem die Botschaft, dass auch schwer parodontal beeinträchtigte Zähne sehr lange Überlebensraten aufweisen können. Dr. Bäumer-König legte hier eigene Untersuchungen von Klinikdaten sowie von Daten aus der Zahnarztpraxis vor [2,3]. Die Patientenfälle der Heidelberger Universitätszahnklinik ergaben, dass diese Patientengruppe im Durchschnitt über 10 Jahre 0,13 Zähne/Patient/Jahr verlor (über 10 Jahre = 1,34 Zähne/Patient; 10-JahresÜberlebensrate 94,8%) [3]. Bestätigt werden diese Ergebnisse von einer ähnlichen Untersuchung eines Forscherteams unter Leitung von PD Dr. Graetz an der Kieler Universität [4]. Dass dies auch in der Praxis funktionieren kann, legte die Analyse der Patientendaten aus 25 Jahren Parodontalbehandlung mit Nachsorge (100 Fälle aggressiver Parodontitis wurden ausgewertet) aus der Bielefelder Zahnarztpraxis nahe, in der die Referentin mit Praxisgründer Dr. Gerd Körner gemeinsam niedergelassen ist. Ganze 0,09 Zähne gingen hier pro Patient/Jahr verloren [3].
Bestandteil des Praxiskonzeptes, das diese Erfolge vor allem bei der lokalisierten, aber auch bei der generalisierten Form der aggressiven Parodontitis zeigt, ist die regenerative Parodontaltherapie unter Einsatz von Knochenersatzmaterial, Membran und Schmelz-Matrix-Proteinen. Voraus geht immer eine Primärtherapie (Initialtherapie und nichtchirurgische, antiinfektiöse Therapie) mit nachfolgender Reevaluation, bei der die Notwendigkeit einer chirurgischen Intervention beurteilt wird. Bei Zähnen mit tiefen vertikalen Knochendefekten kann eine regenerative Therapie Taschentiefen reduzieren und das parodontale Attachment, die Ästhetik und die Langzeitprognose betroffener Zähne in vielen Fällen verbessern. Zum Therapieerfolg tragen, wie die Referentin betonte, ganz entscheidend eine geeignete Vorauswahl von Patienten nach Risikofaktoren und die Nachsorge bei.
Patientenindividualisierte Nachsorge
„UPT – geht es auch ohne Nachsorge?“ war die Fragestellung, für deren Beantwortung PD Dr. Christian Graetz (Kiel) angetreten war. Sehr entschieden setzte er sich für eine patientenindividualisierte Nachsorge ein, auch wenn es derzeit keine wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der UPT gebe [5] und es auch schwierig sein dürfte, diese zu erbringen, da Faktoren wie Patientenadhärenz und die spezifische Ausgestaltung der UPT-Sitzungen eine entscheidende, aber in Studienparametern schwer fassbare Rolle spielen. Der Referent sprach sich gegen eine gesetzliche Reglementierung der UPT aus, die derzeit ja sehr unterschiedlich umgesetzt werden kann, da nach seiner Meinung ein Spielraum für Individualisierung notwendig sei. Entscheidend für eine strukturierte, individualisierte Nachsorge sei es, Risiken abzuschätzen. Die entsprechenden Parameter sollten dem Zahnarzt bekannt sein und sie sollten in der Anamnese und Diagnostik berücksichtigt werden.
Dr. Graetz stellt im Rahmen des Seminars eine modifizierte Variante des Berner Spinnennetzes vor [6], die an der Universitätsklinik Kiel angewendet wird. Die parodontale Risikoanalyse an der Kieler Uniklinik berücksichtigt BOP (Bleeding on Probing), Sondierungstiefen über 5 mm, Zahnverlust, Knochenverlust/Alter, Umweltfaktoren (z.B. Rauchen) und systemische/genetische Faktoren und gewichtet diese Faktoren nach einem einfachen System, aus dem sich ein niedriges, mittleres und hohes Parodontitisrisiko ergibt. Die Recallfrequenz wird demzufolge zwischen 1- und 4-mal pro Jahr festgelegt**. Vorteilhaft sei hier, dass der Patient die Risikofaktoren leicht verstehen könne und für Veränderungen motiviert werde. Mit auf den Weg gab der Referent noch den Ratschlag, auf veränderte Faktoren und Komplikationen schnell zu reagieren und sofort Maßnahmen zu ergreifen z.B. bezüglich Endo, Karies, Furkationskaries, aber auch bei patientenseitigen Faktoren wie Stress.
Als ausgewiesener Experte der Materie befasste sich PD Dr. Gregor Petersilka (Würzburg) mit Pulverstrahl-Verfahren, die für Initialbehandlung (in Kombination, da nicht für harte Konkremente geeignet) und für das Biofilmmanagement im Rahmen der UPT anhaltend en vogue erscheinen. Tatsächlich erleichtere das Pulver-Wasser-Strahlen das Biofilmmanagement und zeichne sich durch eine hohe Patientenakzeptanz aus. Nach dem Stand der Dinge gelte diese Methode als histologisch „sicher“ und könne zur Biofilmentfernung bis 5 mm Taschentiefe angewendet werden. Auch vor konservierenden Maßnahmen kann gestrahlt werden und die Methode könnte auch zur Munddesinfektion infrage kommen. Andererseits sei die Emphysemgefahr im Auge zu behalten und das Kosten-Nutzen-Verhältnis müsse abgewogen werden. Empfehlungen auf Grundlagen der Erkenntnislage sprach Dr. Petersilka für die Pulver Glycin und Erythritol zur supra- und subgingivalen Biofilmentfernung aus. Zu Trehalose sei die Studienlage noch begrenzt. Zum strittigen Punkt des „Nachpolierens“ nahm der Referent eine salomonische Haltung ein: Könne man tun, der Nutzen sei aber nicht belegt.
Der menschliche Faktor: zur Mitarbeit motivieren
Einen breiten Raum nahm im Programm der Fortbildungswoche der menschliche Faktor – in Form der Patientenkommunikation und der Zusammenarbeit im Team ? ein. Als prominenter Vertreter des wissenschaftlichen Ansatzes zur motivierenden Gesprächsführung war PD Dr. Christoph A. Ramseier aus Bern angereist. Im Seminar verdeutlichte der Referent anhand eines fiktiven Patientengesprächs, wie Motivational Interviewing umgesetzt werden kann. Basis ist eine von Vertrauen geprägte Patientenbindung, die im Gespräch gefestigt und keinesfalls durch einen Konflikt belastet werden sollte. Die motivierende Gesprächsführung (Motivational Interviewing) wird an das Alter des Patienten angepasst, sowohl hinsichtlich der Gesundheitsrisiken für die Mundgesundheit als auch hinsichtlich allgemeiner Erfahrungswirklichkeiten. Möchte man beispielsweise mit jungen Menschen über Tabakkonsum sprechen, sollte man über den Boom der E-Zigaretten Bescheid wissen. Um mit einem „Dampfer“ sinnvoll über seinen Tabakkonsum zu kommunizieren, muss das Praxispersonal die Geräte („Verdampfer“) und die Substanzen („Liquids“) kennen.
Entgegen der Meinung, dass die Motivierung des Patienten nach eingehender Informationsvermittlung gefördert wird, basiert die motivierende Gesprächsführung auf der Erkenntnis, dass Patienten sich erst dann verändern, wenn sie einerseits im neuen Verhalten persönliche Vorteile erkennen und sich andererseits die Veränderung auch zutrauen können. Mittels motivierender Gesprächsführung sollen sowohl ambivalente als auch widerstrebende Patienten über mehrere Sitzungen (Patientenbindung, Information, Motivation, Aktion) zur gesundheitsförderlichen Verhaltensänderung aktiviert werden.***
Was tut eine Referentin, wenn es zum Vortragsthema kaum geeignete Quellen gibt? Im besten Falle wohl einen eigenen Ansatz entwickeln. Dr. Stefanie Kretschmar (Ludwigsburg) tat genau dies, um zu erklären, was eine gelingende Teamarbeit in der Parodontologie ausmacht. Als Hauptakteure des Teams versteht sie den Zahnarzt/Zahnärztin, das Fachpersonal (DH, ZMF) und den Patienten, der auch als Teammitglied betrachtet werden sollte. Die Gruppendynamik im Aufgabenteam veranschaulichte Dr. Kretschmar über das „Sylter Viereck“. Dessen Eckpunkte sind (1) verbindliche Regeln für die Arbeit, die sich z.B. über die Systematik der Paro- Therapie ergeben, (2) eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Sinne der patientenzentrierten Medizin, (3) ein Wir-Gefühl, das Empathiefähigkeit der Teammitglieder mit dem Patienten voraussetzt, und (4) die Fähigkeit, persönliche Ziele unter Teamziele zu stellen. Nur wenn alle diese Punkte durch das Team erfüllt werden, funktioniert die gemeinsame Arbeit reibungslos.
Immer locker bleiben? Nein! Man könnte die Botschaft aus den vielseitigen, fundierten Referaten eher auf den Nenner „Immer dranbleiben!“ bringen. Wer in der Parodontaltherapie Erfolg haben möchte, muss sich in jeder Hinsicht bemühen, am Ball zu bleiben – rechtzeitig und regelmäßig sondieren, mit dem richtigen Timing therapieren, die Nachsorge nach Risiken patientenindividuell einstellen und auf Veränderungen schnell reagieren.
* Ausführliche Informationen dazu unter: www.pnc-aktuell.de/paro-klassifikation
** System online unter www.perio-tools.com/pra/de/
*** Für die Patienteninformationen zur Parodontitis empfiehlt der Referent die kostenfreien Materialien unter www.parodont.ch.