Erstes Wittener Symposium zur behindertenorientierten Zahnmedizin

Das erste Wittener Symposium zur zahnmedizinischen Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung fand am 08.09.2023 anlässlich der Verabschiedung von Prof. Dr. Andreas Schulte in der Universität Witten/Herdecke statt. Die Abteilung Behindertenorientierte Zahnmedizin der Universität Witten/Herdecke würdigte die Leistungen ihres Lehrstuhlinhabers mit einem Vortragsprogramm, das sich dem Thema „Schnittstellen bei der zahnmedizinischen Therapie von Patientinnen und Patienten mit Behinderung“ widmete.
Der bislang einzige Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin Deutschlands wurde 2015 an der Universität Witten/Herdecke als Stiftungsprofessur eingerichtet. Während seines Wirkens in Witten hat Prof. Dr. Andreas Schulte als erster Lehrstuhlinhaber die zahnmedizinische Lehre, Forschung und die regionale und überregionale Versorgung von Menschen mit Behinderung maßgeblich vorangebracht. So wurde beispielsweise neben der Versorgung in der Wittener Ambulanz eine aufsuchende Behandlung und Beratung in Einrichtungen der Behindertenhilfe umgesetzt.
PD Dr. Peter Schmidt, Oberarzt in der Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin, stellte die Konzeption, den Aufbau und die Entwicklung dieser aufsuchenden zahnmedizinischen Versorgung vor. Von den ersten Planungen und Gesprächen in 2016/2017 bis zur ersten aufsuchenden Untersuchung in einer Wohneinrichtung mit Spezialpflege in 2019 vergingen fast 3 Jahre, was zeigt, wie schwierig sich die Umsetzung gestaltete.
Im Moment ist die Universität-Zahnklinik der Universität Witten/Herdecke die einzige zahnmedizinische Hochschulambulanz in Deutschland, die Menschen mit Behinderung aller Altersgruppen außerhalb ihrer Räumlichkeiten versorgt und Kooperationen mit Allgemeinmedizinern und therapeutischen Heilberufen pflegt. Die jüngste Optimierung in der aufsuchenden Betreuung parkt vor dem Eingang der Universität: ein E-Transporter, ausgerüstet für die Besuche in den Wohneinrichtungen und dadurch in der Lebenswelt von Mitmenschen mit Behinderung.
Im Rahmen der aufsuchenden Betreuung werden zahnmedizinische Präventionsmaßnahmen sowie kleinere prothetische Behandlungen durchgeführt; demnächst soll auch eine mobile Röntgendiagnostik möglich werden. Wie eine Befragung im Jahr 2021 gezeigt hat [1], wird die aufsuchende zahnärztliche Betreuung von Menschen mit schweren Behinderungen in ihren Einrichtungen vom u.a. Pflegepersonal sowie den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst sehr positiv angenommen und bewertet.
94,2% der Befragten waren sich bewusst, dass „die Anwesenheit eines Zahnarztes im Wohn- oder Lebensumfeld von Menschen mit Behinderung wichtig ist“. Als Beispiel für wissenschaftliche Untersuchungen, die in diesem Umfeld entstehen, stellte ZA Fabian Zurnieden eine Studie zu den Herausforderungen bei der unterstützenden Mundpflege in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe vor.
Interdisziplinäres Arbeiten wird engagiert umgesetzt
Dr. Gisela Goedicke-Padligur, ebenfalls Oberärztin in der Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin, und Logopädin Ute Lehnert referierten gemeinsam zur Mundsprechstunde. Sie bieten Menschen mit Behinderung eine interprofessionelle Therapie mundmotorischer Probleme.
Die Störungsbilder reichen von unzureichendem Mundschluss, über Schluckprobleme und vermehrten Speichelfluss, bis hin zu Fütter- und Kaustörungen. In der Mundsprechstunde steht die Therapie nach Castillo Morales mittels einer stimulierenden Gaumenplatte im Vordergrund. Diese kann z.B. in der Trink- und Esstherapie eingesetzt werden und hilft u.a. den Mundschluss zu verbessern.
Weitere Beispiele interdisziplinärer Zusammenarbeit stellten Prof. Oliver Fricke, heutiger Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Stuttgart und Mitglied der Fakultät für Gesundheit an der Universität Witten/Herdecke, und Internist Dr. Jörg Stockmann, Chefarzt am Evangelischen Krankenhaus Hagen-Haspe, vor. Oberarzt PD Dr. Peter Schmidt arbeitete während der Coronakrise für fast 2 Jahre in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke (damals unter der Leitung von Herrn Prof. Fricke) mit, um die zahnärztliche Versorgung für diese vulnerable Patientengruppe zu verbessern und intern zu organisieren.
-
Das Team der Mundgesundheitssprechstunde (v. l.): Dr. Gisela Goedicke-Padligur und
Logopädin Ute Lehnert nehmen den Patienten/die Patientin aus unterschiedlichen,
ergänzenden Perspektiven in den Blick.
© DKB -
Studierender dankt Prof. Schulte (r) für sein Engagement in der Lehre.
© DKB
In den Vorträgen wurde ein hohes Engagement aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Patientinnen und Patienten mit Behinderung deutlich, welches auch von den Studierenden der Zahnmedizin geteilt wird. So sind Studierende im Fach ZMK im Rahmen von Praktika aktiv in die Behandlung von Menschen mit Behinderung eingebunden und überwinden Berührungsängste; an Samstagen behandeln Studierende unter Supervision regelmäßig Menschen mit Behinderung. Der Studierende Hannes Warnberger berichtete von einem bereichernden Einsatz im zahnärztlichen Team von „Special Smiles“/“Healthy Athletes“ – dem zahnmedizinischen Gesundheitsprogramm für die Athleten der Special Olympics.
In den Vorträgen der Referenten wurde aber auch deutlich, dass noch viele Hürden für eine adäquate Versorgung zu überwinden sind. Die im Laufe des Nachmittags genannten Punkte ergaben eine umfangreiche To-Do-Liste: Dr. Wilfried Beckmann identifizierte die fehlende Möglichkeit von Kooperationsverträgen für die zahnärztliche Versorgung in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe als wichtigste Hürde, die es abzubauen gelte.
Der Internist Dr. Jörg Stockmann betonte die Notwendigkeit einer stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit und plädierte unter anderem für die Einbindung der Zahnmedizin in Medizinische Zentren zur Versorgung erwachsener Menschen mit Behinderung. Auch die unzureichenden Narkosekapazitäten für diese Patientengruppe wurden häufig angesprochen. Um die Zahl invasiver Eingriffe zu reduzieren, wäre zudem mehr zahnmedizinische Prävention für Menschen mit Behinderung notwendig.
Verabschiedung von Prof. Schulte
Prof. Stefan Zimmer, Dekan der Fakultät für Gesundheit in Witten, und Dr. Guido Elsäßer als Weggefährte im Engagement für die Versorgung vulnerabler Gruppen, würdigten das Engagement von Prof. Schulte, das über die Hochschultätigkeit weit hinausgeht. Er habe Fortschritte für die Versorgung von Menschen mit Behinderung erzielt, u.a. in der Mitgestaltung des „AuBKonzepts“ zur Versorgung von älteren Menschen, Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung, das in die Erweiterung des Paragraphen 22a SGB V mündete und mehr Prävention ermöglicht.
Jüngst gestaltete er den Sonderweg innerhalb der PAR-Richtlinie mit für die antragsfreie (nur anzeigepflichtige) Behandlung der Parodontitis bei Menschen, denen Leistungen nach §22a zustehen. Er war maßgeblich an der Etablierung einer Arbeitsgemeinschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung beteiligt sowie an dessen Überführung in eine eigenständige wissenschaftliche Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischen Unterstützungsbedarf (DGZMB) beteiligt. Als Präsident wird er die DGZMB auch weiterhin leiten.
[1] Schmidt P., Tolsdorf F., Zimmer S, Schulte AG: Bewertung eines Projekts zur aufsuchenden zahnmedizinsichen Versorgung von Menschen mit schwerer Behinderung. Kurzpräsentation. Dtsch Zahnärztl Z 2021; 76 (Abstract D29)